Reinhard
Scholtz
Auf Rucksacktour durch
Venezuela,Peru und Bolivien
Tagebuchaufzeichnungen einer
Südamerikareise
(17. Juli - 28. August 1982)
Eine
schwierige Geburt!
Der Countdown für den
Beginn unserer Reise läuft - und die Pässe sind immer noch nicht eingetroffen.
Bange Stunden, Stunden voller Angst und vager Hoffnung. Und wofür das alles? Es
hat geheißen, ohne Visum sei keine Einreise nach Venezuela möglich. Diese
Fehlinformation von Seiten der Venezolanischen Botschaft und die ungeheure
Schludrigkeit des Konsulats haben dazu geführt, daß unsere Pässe nicht – wie
sie sollten - in unseren eingenähten Hosentaschen sind, sondern auf dem Postweg
von Frankfurt nach Wenholthausen. Und das wenige Stunden vor dem geplanten
Abflug! Sollte das ein Vorgeschmack auf die so häufig zitierte Maňana-Mentalität
der Südamerikaner sein?
Aber genug des
Lamentierens; denn als ich diese Zeilen schreibe, sitzen Conni und ich längst
zufrieden und ledig aller Reise-Bauchschmerzen
in der DC 10 der VIASA, der venezolanischen Fluglinie. Unser
langgehegter Traum von Ferne, Abenteuer, Indios am Titicacasee, Andenzauber und
Urwaldfieber kann nun Realität werden: Südamerika kommt näher mit ca. 800 km in
der Stunde. Etwas über vier Jahre nach meiner ersten echten Globetrottertour,
damals durch Asien, reihe ich mich wieder ein in die Heerschar der
Rucksackjünger, diesmal bewaffnet mit jenem fast schon legendären
blau-gebundenen Mammutwerk, dem „South-American Handbook", das jedem
Traveller ohne „Neckermann-Mentalität“ als eine Art Reise-Bibel auf Südamerikatrips
dient.
Bis
es soweit war, konkrete Reisevorbereitungen zu treffen, gab es zunächst einige
Hürden zu überwinden: eine alljährlich drohende Versetzung an eine andere
Schule wegen der hiesigen „Lehrerschwemme" mit eventuellem Umzug sowie
Connis neu angetretene Stelle in Dorlar und die Frage nach Urlaub für immerhin
sechs Wochen standen dabei im Vordergrund. Das alles konnte mich nicht davon
abhalten, daß ich mich mit ähnlicher Euphorie wie vor vier Jahren in Berge von
Globetrotter- (oder wie man heute trendgemäß sagt: „alternative" Reise-)
Literatur stürze, mir von altgedienten Reise- und auch Südamerikaexperten wie
Roland und Klaus etliche Tips einhole, Listen, Pläne und
Routenzusammenstellungen anfertige (natürlich immer zusammen mit Conni) und
schließlich den unumgänglichen Impfmarathon einleite. Letztlich hieß es nur
noch auf die Tickets und (wie beschrieben) die Pässe sowie die Großen Ferien
warten.
Folgenden Fahrtverlauf
haben wir für die kommenden sechs Wochen geplant: drei Tage Caracas/Venezuela
mit einem Abstecher an die karibische Küste, jedoch als Hauptreiseziel eine
viereinhalbwöchige Rundfahrt durch Peru mit den Schwerpunkten Anden
und Amazonastiefland. Dazwischen stehen noch einige Tage Bolivien
mit La P a z auf dem Programm und evtl. ein Kurzabstecher nach Arica
in Nordchile.
17.7.
- Samstag Reiseverlauf: Amsterdam - Paris -
Madrid -Caracas
Während
ich die „schwierige Geburt" beschreibe, sitze ich in der inzwischen
vollbesetzten Maschine, die in Paris und Madrid weitere Passagiere aufgenommen
hat. Es ist fast drei Uhr nachts; und während wir gemütlich über den Atlantik
fliegen, dürften Micha und Regina, die uns nach Amsterdam gefahren haben, in
ihrem winzigen Hotelkämmerchen in der Grachtenstadt längst von großen
Schlafzimmern und gemütlichen Doppelbetten träumen. Aber wer weiß, was in
dieser Hinsicht noch auf uns zukommt, da neben allem Erlebnishunger auch
Sparwille und einfaches Leben mit möglichst wenig Nur-Konsum in Anpassung an
die Gegebenheiten der Länder praktiziert werden sollen.
Inzwischen
sind die Ohrhörer übergestülpt, vorne auf der Bordleinwand beginnt ein Film
mit George Segal, den man sich je nach Gusto in Deutsch oder Spanisch anhören
kann, und ich bin gespannt, wie wir die wahrscheinlich schlaflose Nacht und die
Umstellung auf sechs Stunden Zeitunterschied überstehen.
18.7. – Sonntag
14 1/2 Stunden Flug
liegen hinter uns. Nach geglückter, wenn auch etwas harter Landung gibt’s
Applaus. Wir beeilen uns, alle anfallenden Formalitäten zu erledigen, Geld zu
wechseln und uns in tropischer Schwüle auf die Suche nach einem Bus Richtung
Caracas zu begeben. Kaum haben wir das klimatisierte Flughafengebäude
verlassen, spricht uns auch schon ein Mann auf Englisch an und fragt, ob er uns
in das 14 km entfernt gelegene Stadtzentrum mitnehmen könne. Etwas skeptisch
gehen wir auf das Angebot ein, nachdem er versichert hat, daß er nicht zu den
obligatorischen Taxi-Aufreißern gehöre und lediglich vergebens auf eine Person
am Flughafen gewartet habe. Duplizität der Ereignisse: vor vier Jahren erlebte
ich eine ähnliche Ouvertüre, als uns in Teheran ebenfalls zu fast noch
nächtlicher Stunde (zwischen vier und fünf in der Frühe) ein gut englisch
sprechender Mann ins Stadtgebiet beförderte und uns vorab eine Menge
Informationen gewissermaßen aus erster Hand über Land und Leute gab. So auch
diesmal, als wir in einem stark schrottreifen amerikanischen Schlitten über
den Highway gen Caracas brausen. Meine Zweifel an den „ehrlichen
Absichten" des Fahrers verflüchtigen sich mit fortdauernder Fahrt. Unter
anderem bekommen wir von unserem netten „Reiseleiter" folgende (z.T. für
uns nicht mehr ganz neuen) Informationen:
Venezuela, im Norden
Südamerikas gelegen, hat rund 12 Mio. Einwohner, die Hauptstadt Caracas etwa 3
Mio. Den Norden und Nordwesten nehmen die Ausläufer der Anden ein, die Küste
gehört zum karibischen Raum. Entsprechend der Nähe zum Äquator ist das Klima
(zumindest im Tiefland) tropisch schwül, wovon wir uns ja schon überzeugen
konnten.
Venezuela hat sich in
den vergangenen Jahren vor allem als der drittgrößte Erdölexporteur der Welt
hervorgetan, was neben allem Wohlstand aber auch erhebliche Probleme gezeitigt
hat. So sind hier nach abflauendem Höhenflug im Ölgeschäft die sozialen
Gegensätze besonders groß. Eine enorme Landflucht verschärft die soziale
Spannung zusätzlich. Eben diese Landflucht findet bei unserer Fahrt Richtung
Caracas ihren deutlich sichtbaren Ausdruck, da sich überall wild wuchernde
Elendsviertel in die umliegenden Berge eingenistet haben. Ohne Kanalisation und
häufig ohne Strom fristen hier Hunderttausende ein ärmliches Dasein unter dem
Existenzminimum mit der trügerischen Hoffnung auf Arbeit und soziale
Verbesserung.
Der Gegensatz zwischen Arm und Reich wird uns schon bald drastisch vor Äugen
geführt: Nachdem wir die Elendsviertel hinter uns gelassen haben, präsentiert
sich uns eine Gigantomanie ersten Ranges: wo man hinsieht, Beton und abermals
Beton; dazu Straßen mit vier, sechs oder acht Spuren und entsprechend Autos,
Autos, Autos... (meist amerikanischen Fabrikats).
Nun, bei aller
Häßlichkeit kommen wir nicht umhin, uns nach herzlicher Verabschiedung auf
Zimmersuche zu begeben. Was die Quantität des Angebots betrifft, gibt es da
kaum Probleme doch müssen wir bald erkennen, daß das Preis-Leistungs-Verhältnis
mit den gewohnten Maßstäben nicht zu messen ist. Vorhin sprach ich noch vom
Sparen, und nun befinden wir uns in einem Loch von einem Zimmer auf engstem
Raum für sage und schreibe umgerechnet 42 DM - und das war noch das billigste!
Ein schöner Vorgeschmack auf das Preisniveau in diesem Land.
Nach
diesem Schock gönnen wir uns erstmal eine Mütze Schlaf, um dann mit
wiedergewonnenen Kräften die Stadt näher zu erkunden. Der erste schlimme
Eindruck von vorhin bestätigt sich auch bei genauerem Hinsehen. Neben einer
wahren Betonwüste nehmen sich die Elendsviertel, die sog. „barriadas“ an den
umliegenden Hängen fast schon malerisch aus. Nach längerem abgasreichen Marsch
durch ein diffus angeordnetes Häusermeer erreichen wir eine dieser
Betonburgen, die sich von innen zu unserer Freude dann aber als sehr sehenswertes
Museum entpuppt. Das „museo de bellas artes" beherbergt neben besonders augenfälliger
"Pop-Art" Kunstrichtungen vornehmlich südamerikanischer Couleur.
Während unseres Besuchs beginnt in einer der Hallen ein Bläserquintett, ein
(Werk von Hindemith zu spielen, dem wir einige Zeit zuhören.
In dem angrenzenden Park tummeln sich Jogger, Familien und Eisverkäufer. Das
tropische Klima mit seiner Treibhausschwüle treibt nicht nur Schweiß, sondern
uns auch mehrmals an Cola-Stände.
Nach gewaltigem
Fußmarsch erreichen wir endlich so eine Art Zentrum mit Geschäften, einer
Kathedrale (ausnahmsweise nicht aus Beton) und einem Brunnenplatz, auf dem
Erwachsene und Kinder im schicken Sonntagsstaat promenieren. Interessant dabei
die unterschiedlichen Hautfarben von weiß bis pechschwarz: ein anscheinend
harmonierender Schmelztigel.
Ein chaotischer
Oldtimer-Bus bringt uns zurück in unseren Stadtteil „Sabana grande", in
dem „unser“ Hotel liegt und wo wir eingerahmt von vornehmen Geschäften und
Restaurants uns den Luxus einer sündhaft teuren Portion Spaghetti Bolognaise
und eines herrlichen Melonenfruchtgetränkes leisten. Offensichtlich gibt sich
hier die Hautevolée ein Stelldichein. Zum ersten mal kommt so etwas wie
Atmosphäre auf in dieser Stadt.
19.7. -
Montag Caracas - Macuto
Der
nächste Härtetest steht bevor: nach unwilliger Begleichung der Hotelrechnung
geht's mit vollem Marschgepäck (Rucksack und Tasche wogen vor Fahrtantritt 88
kg, allerdings inclusive meiner 70 kg ...) auf die Suche nach einer
Drahtseilbahn. Da mir keinen passenden Bus finden, oder besser: wir uns nicht
genügend verständlich machen können, trotten wir Kilometer um Kilometer
bergauf, bis wir schließlich fast vor dem zu erklimmenden Berg stehen und uns
ein Zeitungsverkäufer lakonisch darauf aufmerksam macht, daß die Bahn nicht in
Betrieb sei. Nun, was soll's - wir springen kurzerhand in einen der zahllosen
Busse und machen für 60 Pfennige eine Art Stadtrundfahrt, die nach zwanzig
Minuten im Zentrum endet. Hier brauchen mir nicht lange nach einem Anschlußbus
zu fahnden, der uns nach Macuto, einem Badeort 30 km außerhalb von Caracas,
bringt.
Vorbei am Hafen von La
Guaira führt die Fahrt entlang der Küste mit schönen Sandstränden nach Macuto
„which is dirty and littered and the pavements are broken and hazardous"
(South American Handbook). Die Bürgersteige hier sind in der Tat nichts für
einen „Hans-guck-in-die-Luft", aber ansonsten erwartet uns ein mondäner
Badeort mit exklusiven Hotels und Restaurants. Doch leider sind auch die Preise
wieder entsprechend. Bis aufs Busfahren
liegt alles erheblich über deutschem Level.
Das von Roland
empfohlene Hotel Diana finden mir nicht, so daß Conni und ich zwecks weiterer
Recherchen uns für einige Zeit trennen. Als ich schweißtriefend nach einer
halben Stunde zurückkehre, um Conni mitzuteilen, daß unter 90 Bolivares (= 54
DM) pro Nacht hier nirgendwo etwas zu finden ist, stellt sie mir einen jungen
Mann vor, der ihr zwischenzeitlich zum „Small-Talk" ein Bier spendiert
hat. Ibrahim ist 35, spricht leidlich Französisch und möchte uns, so seine
Worte, zu sich nach Hause einladen. Etwas zögernd willigen wir ein und sitzen
auch schon in einem Collectivo, einem der vielen Kleinbusse, die überall wo
nötig Passagiere aufnehmen und rauslassen. Wenig später befinden wir uns in
einem Haus mit Wellblechdach, das offensichtlich eine größere Anzahl von
Personen beherbergt und das sicher nicht zum Reichenviertel des Ortes gehört.
Der Satz „We’re poor but we’re rich in mind" scheint den Nagel auf den
Kopf zu treffen, denn alle hier versammelten oder nach und nach eintrudelnden
Menschen sind sehr freundlich und sind, wie sich herausstellt, eine große
Familie. Ibrahim erzählt, daß er 36 Geschwister habe, wobei allerdings „nur“
acht von derselben Mutter sind. Schließlich machen wir auch die Bekanntschaft
dieser fleißigen Frau, welche uns gleich nach der Begrüßung mit ekelhaft süßem
Kaffee eine Kammer herrichtet. Damit nun die Gastfreundschaft nicht gar zu sehr
überstrapaziert wird, einigen Ibrahim und ich uns auf einen Übernachtungspreis
so zwischen 12 und 18 DM, was bei dem Anheuerungsversuch sicherlich von
vornherein einkalkuliert gewesen ist.
Um
nun die ganze lange Geschichte des Ibrahim, seiner hübschen argentinischen Frau
und seiner so zahlreichen Familie zu erzählen, bräuchte ich wohl Seiten, so
daß ich mich auf das bis hierher Geschriebene beschränke in der Annahme, daß
auch vom morgigen Tag noch zu berichten sein wird. Hoffentlich klappt es mit
der Konversation noch besser, denn unsere mickrigen Spanischkenntnisse aus
vergangenen VHS-Zeiten sind doch ein arges Handicap.
Gegen Abend verbringen wir noch
einige Zeit am einladenden Strand von Macuto und landen zuletzt in einem viel
zu kühlen „Tropic-Burger" (Mc Donald’s läßt grüßen) bei Hot Dog und
„leche“ (Milch). Wir sind gespannt, ob wir den Weg in unsere hoch am Berg gelegene
„barriada de luxe“ bei der Dunkelheit finden werden.
20.7. – Dienstag
Nach langem inneren
Ringen haben wir den Entschluß gefaßt, die Segel zu streichen. Unser äußerst
unbequemes Nachtlager mitten im Wohnzimmer, nur durch einen Vorhang abgetrennt,
ist zwar mit Herzlichkeit hergerichtet, verlangt uns zivilisierten Westlern
aber doch einiges ab: Kakerlaken marschieren unbekümmert neben Riesenkäfern
einher, die „Toilette" ist ohne Wasserhahn, statt dessen mit
improvisierter Dusche, nichts funktioniert, und der Blick vor das abenteuerlich
zusammengeschusterte Haus auf Berge von Abfall verdirbt den letzten Appetit.
Das durchgelegene, schmale Bett hat zudem während der Nacht einiges
artistisches Können abverlangt, um eine einigermaßen brauchbare Schlafstellung
einzunehmen, und zu guter Letzt ist noch bis lange nach Mitternacht von den
vielen Menschen sowie lautdröhnendem (Farb!-)Fernseher und Cassetten-Recorder
ein solcher Lärm an unsere Schlafstätte gedrungen, daß selbst mein sonst so
bewährtes Ohropax versagt hat. Nein, unser Entschluß steht fest.
Nach überprüfen
unserer Finanzen geben wir am Morgen mit ganz schlechtem Gewissen vor, unser
Flugzeug gehe bereits heute Abend. Leicht fällt mir das Flunkern bei soviel
Nettigkeit wahrlich nicht. Man tauscht Adressen, ich mache ein im Eifer des
Gefechts sicher verwackeltes Foto, und zuletzt muß ich Ibrahim nach Begleichung
unserer „Rechnung" noch versprechen, daß ich mich in Peru nach den
derzeitigen Haschischpreisen erkundigen werde, da er sich mit dem Handel dieses
Rauschmittels wohl weitgehend seine Brötchen verdient.
Anschließend begeben
Conni und ich uns direkt hinunter an den Strand, beziehen unverzüglich ein
Zimmer im doch nur 80 Bolivares teuren Strandhotel „Villa del Mar" und
genießen erst mal ein breites Bett, Dusche und durch den Ventilator erträgliche
Temperaturen. Nach Schreiben dieser Zeilen werden wir nun endlich noch „Karibik
satt" erleben können und uns in die warmen Wogen stürzen. Diese sind
mindestens 23-24°C warm und nicht von schlechten Eltern. Neben dem
bombastischen Sheraton-Hotel sind emsige Jungen damit beschäftigt, sich die
Wogen auf kleinen Brettern bäuchlings zu Nutze zu machen, betreiben also echtes
Surfen, das ja ursprünglich ohne Wind und Segel ausgeübt worden ist und noch
wird. Das saubere Wasser lädt zu langem Schwimmen ein, ein Grund für unseren
Karibikabstecher, da es ab morgen in Peru kaum noch Gelegenheit zum Baden geben
wird. Als Mitbringsel von hier werden wir auf alle Fälle einen leuchtenden
Sonnenbrand mit auf die Weiterreise nehmen. Leuchtend ist auch das herrliche
Abendrot, das unser leckeres Fischmahl direkt am Meer begleitet und das
tropische Träume doch noch wahr werden läßt.
21.7. - Mittwoch Caracas - Bogota – Lima
Was uns heute morgen widerfährt, gleicht einem Krimi mit
allergrößtem Nervenkitzel:
Um viertel nach fünf
in der Frühe, es ist noch stockfinster, stehen Conni und ich an der
improvisierten Bushaltestelle und warten auf einen Bus Richtung Flughafen. Die
Maschine soll um sieben Uhr starten. Es wird halb sechs, der zweite Bus kommt,
doch beim Namen „Aeropuerto Maiquetia" wird nur abgewinkt. Um viertel vor
sechs wird es uns zu bunt; wir springen in einen Bus, obwohl der Fahrer
wiederum erklärt, daß er nicht dorthin fahre. Was bleibt uns übrig. Um fünf
nach sechs steigen wir aus, oder besser stürzen hektisch heraus, da wir den
Flughafen in einiger Entfernung gesichtet haben. Wir nehmen unsere Beine in die
Hände und rasen los. Die Schlepperei wird zur Qual bei dieser Affenhitze.
Plötzlich endet die Straße abrupt an einem Drahtverhau. Da hilft nur eines:
Rucksack rüberwerfen und drüberklettern. Dann der nächste Schock: das
Flughafengebäude wird zur Fata Morgana, da hier nur Inlandflüge abgefertigt
werden. Für die Forderung eines unverschämten Taxifahrers, der uns für zehn
Dollar zum richtigen Flughafen fahren will, haben wir nur ein verzweifeltes
Lächeln übrig: No cash dollars! Also noch einmal zusammenreißen und weiter. Ich
presche mit Connis Paß und Ticket vor und erkenne endlich das richtige Gebäude.
Um zwanzig vor sieben, also zwanzig Minuten vor der offiziellen Abflugszeit
stehe ich völlig erschöpft und schweißtriefend vor dem Abfertigungsschalter.
Die mir noch von der Ankunft vor drei Tagen äußerst unsympathische, da sture
und unfreundliche Schalterdame läßt meine vagen Hoffnungen auf den Nullpunkt
sinken. Nichts geht mehr, angeblich. Auch die Dame am nächsten Schalter
schüttelt, nachdem sie mit dem Flugzeugkapitän telefoniert hat, nur den Kopf,
obwohl ich ihr in meinem erbärmlichen Zustand, dem Heulen nahe, sichtlich leid
tue.
Conni ist nun auch da.
Wir stürzen in unserer Verzweiflung einfach zur Gepäckabfertigung, und siehe
da, ein Hoffnungsschimmer: unsere Rucksäcke werden angenommen. Fünf vor
sieben!
Wir wollen durch die
Kontrolle, doch da ist von einer zusätzlichen Flughafengebühr die Rede. Woher
sollen wir die fünf Dollar pro Person nehmen, da wir dummerweise keine
Bar-Dollars und auch keine Bolivar mehr haben? Nochmals rasen wir los, diesmal
zum Wechselschalter, wieder an allen Wartenden vorbei. Der Reisescheck ist
schon ausgefüllt - aber wo ist nun wieder mein Paß? In der Ferne sehe
ich Conni mit den Pässen — aber auch mit den so notwendigen
Gebührenbescheinigungen wedeln. Kurzerhand hat sie diese der Schalterdame
entrissen, also wieder Hoffnung! Ohne zu bezahlen (wie auch?) passieren wir mit
den Bescheinigungen die Kontrolle; schnell werden noch die Taschen
durchleuchtet, und endlich - um fünf nach sieben - sitzen wir wider alle
Erwartungen in dem Flugzeug nach Lima. Es ist tatsächlich geschafft; wir aber
auch!!
Nun haben wir Zeit zum
Luftholen. In der Maschine treffen wir auf einige vom Flug Amsterdam - Caracas
bekannte Gesichter. In Bogota/Kolumbien landen wir eineinhalb Stunden später
zwischen. Von nun an haben wir wieder Fensterplätze und können so die herrliche
Aussicht auf die z.T. schneebedeckten, formenreich aufgefalteten Anden
genießen.
Beim Anblick dieses
von gewaltigen Erdkräften geschaffenen Wunderwerks kommt mir in den Sinn, daß
wir nun irgendwann den Äquator überfliegen müssen. So fliegen wir quasi mitten
in den peruanischen Winter, wenn man in tropischen Breiten überhaupt von
Jahreszeiten sprechen kann. Die Schulweisheit hat uns schließlich gelehrt, daß
in den Tropen ein sog, Tageszeitenklima herrscht, die Klimaschwankungen also eher
im Verlaufe eines Tages als während des gesamten Jahres spürbar werden.
Allerdings trifft dies für Peru nur bedingt zu, da hier wegen der Anden, dem
Amazonastiefland und dem vom Humboldstrom beeinflußten Küstenstreifen im Grunde
alle Klima- und Vegetationszonen dieser Erde vorhanden sind.
Zuerst nun dürfen wir uns auf ein wolkenverhangenes Lima freuen, da eben
erwähnter Humboldtstrom zu dieser Zeit des Jahres durch sein kaltes Wasser für
ständige Kondensation und ein entsprechend dichtes Wolkenband über der peruanischen
Hauptstadt sorgt. Nix „prima Klima in Lima", von dem die Gruppe „UKW"
in ihrem Dauerbrenner „Ich bin ja so verschossen ..." schwärmt!
Dennoch, wir scheinen
heute das Glück gepachtet zu haben, da uns wider Erwarten bei der Ankunft eine
hell leuchtende Sonne begrüßt.
Nicht nur die Schlange
vor dem Ankunftsschalter, sondern auch etliche Taxi-Aufreißer lassen wir
schnell hinter uns und besteigen einen in der Nähe des Flughafens haltenden
klapprigen Bus, mit dem wir in Richtung Stadt zuckeln. Neugierig werden wir von
allen Seiten gemustert. Vor allem für die vielen Schüler in ihren grauweißen
Schuluniformen stellen wir offensichtlich eine Attraktion dar. Die Fahrt
gestaltet sich zur reinsten Rundreise durch die Vororte Limas, die sog. „pobles
jovenes", was man schmeichelhaft mit „jungen Siedlungen" übersetzen
könnte. Zwar sehen die flachen Steinhäuser vergleichsweise standfest aus und
sind den riesigen Elendsvierteln sicher vorzuziehen, doch können auch sie die
Armut und Unterentwicklung nicht verdecken, die hier wie da Kennzeichen der
großen Städte sind. Man muß sich vorstellen, daß zu den über vier Mio.
Einwohnern Limas Jahr für Jahr ca. 400 000 hinzuziehen bzw. durch natürliche
Bevölkerungszunahme
hinzukommen. Anstatt weitere Fakten aufzuzählen, möchte ich an dieser Stelle so
quasi als Einstimmung auf das, was uns an Schönem, Interessantem,
Irritierendem und nicht zuletzt scheinbar Paradoxem auf der nun beginnenden
Rundreise erwartet, einen Abschnitt aus Thilo Koches „Interview mit Südamerika"
zitieren, den ich in einem Erdkundebuch entdeckt habe:
„Slums in
Lateinamerika sind keine Asyle für den Abschaum der Gesellschaft. Die
Kriminalität ist nicht so hoch wie in den Elendsquartieren anderer
Kontinente. Hier leben sogar besonders viele Leute, die vorwärtskommen wollen,
die vom Lande in die Stadt zogen, um etwas zu lernen und freier zu sein.
Lima ist eine
herrliche Stadt. Mit ihren mehr als 2 Mio. Einwohnern ist sie die größte
lateinamerikanische Metropole am Pazifik. Das Hotel Crillon könnte in Miami
oder in Los Angeles stehen. Der Dachgarten, umgeben von riesigen
schräggestellten Glasfenstern, öffnet den Blick auf die Lichter von ganz Lima
zu Füßen. Auf der einen Seite dämmert der graue Pazifik, auf der anderen grüßt
der silberne Kranz der Anden. Dort oben leben die Lamas und ihre kleinen
Geschwister,
die Alpakas. Dort oben liegt auch Macchu Piccu. Lima hat im Gegensatz zu den
meisten südamerikanischen Städten ein lebhaftes Nachtleben. Obwohl auch hier
elektrische Energie Mangelware ist, flimmern die Bar-Reklamen um die Wette.
Auf den Steinen des Trottoirs vor dem
Hotel hocken, bis tief in die Nacht hinein, Bettler. Eine junge Indiofrau
reicht ihrem Baby die Brust. Drei Jungen starren mit großen schwarzen Augen auf
die Passanten, ein alter Mann, den man eher in einem indischen Elendsviertel
vermuten würde, reckt die dünnen Arme unbeweglich wie ein Fakir in die Luft.
Alle diese Wesen sind mit stinkenden Lumpen behangen. Mit seiner Ankunft in der
Stadt gibt der Indio, auch was sein Äußeres betrifft, viele seiner Gewohnheiten
auf, damit er nicht mehr als nötig auffällt. Er hört auf, Indio zu sein und
zählt von nun an zum Stadtproletariat. Nur wenige Frauen hüllen ihr Kind in ein
farbiges Rückentuch. Kein handgewebter Poncho verleiht mehr den Männern ein
malerisches Aussehen. Beim Anblick schmutziger, tuberkulosekranker Kinder mögen
wir unser Mitleid noch genießen, beim Erwachsenen jedoch ist Armut häßlich
anzusehen. Die Barriada „San Pedro“ zählt zum Schlimmsten, was ich je gesehen
habe. Finstere Blicke ringsum, unglaublich verhungerte Hunde. Unglaublich
verwahrloste Kinder in unübersehbarer Zahl, Hütten aus Strohgeflecht und alten
Kartonagen. Alle vom Wüstensand verweht und erdbraun gefärbt. Kein einziges
Fenster. Die Leute kriechen durch Löcher hinein und heraus. Natürlich kein
elektrisches Licht, Wasser nur an wenigen Zapfstellen, von denen es Frauen in
Blechkanistern oft viele hundert Meter weit schleppen müssen. Aus verrosteten,
vollkommen verdreckten kleinen Omnibussen ergießen sich Massen von zerlumpten
Arbeitern, die irgendwo eine Beschäftigung gefunden haben und abends in ihre
Barriada zurückkehren.“
Soweit also die Ausführungen Thilo
Koches. Im weiteren Verlauf unserer (Bus-)“Rundfahrt“ werden die unfertig
aussehenden Flachbauten der „pobles jovenes“ von höheren Gebäuden abgelöst -
wir nähern uns dem Zentrum. Der Verkehr und die Menschenmengen nehmen
bedrohlich zu. Im Zentrum steigen wir aus und finden schon bald das von uns
angesteuerte Hotel „La Merced“, Wir müssen mit einem Vierbettzimmer
vorliebnehmen, was uns aber nicht weiter stört, da es sauber und sehr billig
ist. Und siehe da, wenig später steht ein Pärchen in der Zimmertür, das uns aus
dem Flugzeug noch wohlbekannt ist. Zwar haben die beiden offensichtlich
denselben Reiseführer im Gepäck (nämlich Lössls „Peru-Bolivien“-Handbuch, das
das „Merced“ als „Tip“ anpreist), doch haben sie sich einem teuren, dafür
langsamen „Airport-Bus“ anvertraut und nicht - wie wir - dem spottbilligen
Öffentlichen Bus.
Wir verstehen uns auf
Anhieb und stellen bald fest, daß Reisevoraussetzungen und -pläne sehr ähnlich
gelagert sind. Leise Zweifel an der Originalität und Individualität unserer
Reise kommen mir, als wir feststellen, daß die beiden auch Lehrer sind (aus
Essen), sie fast dieselbe Route nehmen wollen wie wir (wo ich zuvor doch so
daran herumgetüftelt habe), sie dasselbe Reisebudget haben, dieselbe Zeit usw..
An der Plaza „San
Martin", nahe unserem Hotel, beginnt eine erste Erkundungstour auf
peruanischem Boden. Der koloniale Baustil der Spanier rund um den Platz ist
unübersehbar. Eine schachbrettartige Aufteilung von Straßen und Gebäuden in
quadratischem Blocksystem machen das Wiederfinden einer bestimmten Stelle
ziemlich leicht. Erst im nahen Indioviertel drohen wir die Übersicht in dem Gewimmel
von Menschen, Ständen und Autos zu verlieren. An den nebeneinander in Reih und
Glied stehenden Schuhputzpodesten scheint das Geschäft zu florieren; auch die
Galerie von Schreibmaschinenschreibern, die Maschinen auf einem Stand oder auf
den Knien, kann offenbar über Mangel an Beschäftigung nicht klagen. Formulare
und Schriftstöcke aller Art gibt es massenhaft auszufüllen.
Über die exotischen
Anblicke dürfen wir nicht vergessen, daß Vorsicht geboten ist. Ein deutscher
Tramper erbettelt sich von uns einen kleinen Geldbetrag, nachdem er erzählt
hat, daß er völlig ausgeraubt worden sei und nun auf Geld aus Deutschland
warte. Bis dahin muß er sich so durchschlagen. Die Sache erscheint uns
glaubwürdig, da wir nicht zum ersten Mal von solchen Vorfällen hören. Bei all
den vorab zu Ohren gekommenen Schauergeschichten kann einen eigentlich die
nackte Angst packen. Da hilft halt nur: Augen auf und möglichst wenig Anreiz
zum Klauen geben. Das ist der Preis für unser relatives „Reich-Sein“.
Gegen Abend nimmt das
Gedränge in den von Abgasen verpesteten Straßen enorm zu. Asiatische
Erinnerungen werden wach. Vor einem Luxushotel werden gerade die
Schönheitsköniginnen verschiedener Länder unter starkem Polizeischutz und regem
Interesse der Bevölkerung abgeholt. Wenig später sehen wir die Grazien in einer
glitzernden Gala-Show zur „Miss-Universum-Wahl“ im Fernsehen unserer Herberge
wieder. Der pompöse Aufwand ärgert mich, und mir fällt der Begriff vom „Opium
fürs Volk" ein, ein Volk, das Brot sicher nötiger bräuchte als aufwendige
Inszenierungen von Eitelkeiten.
Draußen hat es stark abgekühlt.
22.7. - Donnerstag Lima - Ica
Nach
den Aufregungen des vergangenen Tages wollen wir es heute eigentlich
gemächlich angehen lassen. Aber es soll wieder anders kommen.
Zunächst schreiben wir
in Ruhe Tagebuch bzw. Postkarten, essen eine Kleinigkeit und begeben uns dann
gegen Mittag zur „Roggero“-Busstation, da wir beschlossen haben,
gleich heute Lima den Rücken zu kehren. Gegen Ende der Reise werden wir ohnehin
hier noch einige Tage verbringen. Somit kann also unsere Rundreise durch
Süd-Peru und Bolivien beginnen.
Die Fahrt Richtung Ica
führt auf der berühmten „Panamericana Sur", einer gut ausgebauten
Küstenstraße, durch die „Costa" entlang dem Pazifischen Ozean. „Costa"
wird der schmale Küstenstreifen genannt, der durch Wüstenlandschaft mit vereinzelten
Landwirtschaftszonen gekennzeichnet ist. In diesen Landwirtschaftszonen können
wir Baumwollfelder sowie Mais- und Gemüsefelder erkennen, die z.T. künstlich
bewässert werden. Faszinierend dann wieder der schroffe Übergang zur
vollkommenen
Sandwüste, in der nur selten ein Strauch zu sehen ist. Und die Ausläufer der
Anden mit ihrem Formenreichtum drücken der Landschaft ihren unverwechselbaren
Stempel auf.
Mitten in unsere Betrachtungen dringt ein explosionsartiger Knall; der Bus
gerät ins Schlingern, und der Fahrer hat alle Mühe, das Lenkrad festzuhalten.
Bei mindestens Tempo 80 rast das Fahrzeug einer Beinahe-Katastrophe entgegen.
Frauen und Kinder schreien, dichter Qualm dringt in das Businnere, und
instinktiv klammern wir uns an allem Greifbaren fest und hoffen auf die Künste
des Fahrers. Dieser hat im wahrsten Sinn des Wortes alle Hände voll zu tun und
bringt das Gefährt tatsächlich nach ca. 200 m auf der zum Glück schnurgeraden
Straße zum Stehen.
Leicht benommen und
mit klopfenden Herzen steigen wir aus und besehen uns die Misere. Genau bei km
268 südlich von Lima (wie Conni recherchiert) ist der rechte Vorderreifen
geplatzt. Nun stehen wir mitten in der Wüste, Sand fliegt durch die Luft, und
wir sehen zu, wie der Fahrer samt seinem Gehilfen den gewaltigen zerfetzten
Reifen austauschen.
Nach einer Stunde
Unterbrechung erreichen mir wenig später Ica. Im Ortsmittelpunkt an der „Plaza
de Armas" (einen Platz mit diesem so militärisch klingenden Namen gibt es
in jeder größeren Stadt Perus) geraten wir in einen Menschenauflauf. Hier
feiert man lautstark ein offensichtlich marxistisches Studentenfest, das wir
später nach unserer Hotelsuche noch einmal aufsuchen wollen.
Die Hotels, wenn man sie überhaupt so nennen kann, sind hier überwiegend
schäbig und relativ teuer. Überhaupt stellen wir einen sprunghaften
Preisanstieg für Übernachtung, Busfahren und Essen gegenüber den in den
Reiseführern angegebenen Preisen fest.
23.7. - Freitag
Ica – Arequipa
Eigentlich hatten wir
vorgehabt, bis Nazca, etwa 100 km weiter zu fahren. Dort befindet sich
das Zentrum jener berühmten Nazca-Kultur, die sich durch die
„außergewöhnlichsten, geschicktesten Keramiken von einer technischen Perfektion
und von unglaublicher Schönheit des präkolumbianischen Amerikas"
auszeichnet (Prospekt-Jubeltext). Was uns aber noch mehr interessiert hatte,
waren die außergewöhnlichen „Linien von Nazca", die man angeblich bei
einem Rundflug gut erkennen kann. Riesige Zeichnungen von Tieren, Spiralen,
Trapezen und Dreiecken werden dann mitten in der Wüste sichtbar.
Es hat viele
Deutungsversuche zu diesem Phänomen gegeben. Am abenteuerlichsten ist mit
Sicherheit der des Herrn von Däniken, der hier außerirdische Wesen am Werk
gesehen haben möchte. Wahrscheinlicher ist, daß es sich um einen unglaublich
ausgeklügelten astronomischen Kalender handelt, der mit oder ohne technische
Hilfsmittel vor Jahrhunderten in den Sandsteinboden gescharrt worden ist. Da
Conni und ich kürzlich einen Film im deutschen Fernsehen über diese Linien und
das Schaffen der dort tätigen 77-jährigen Mathematikerin Maria Reiche gesehen
haben und uns der Rundflug für 40 Dollar auch zu teuer ist, haben wir uns
entschlossen, nur bis Ica zu fahren.
Ica ist nicht nur der
berühmteste Weinort Perus, sondern bietet außerdem zwei sehenswerte
Attraktionen. Die eine ist das „Regionale Museum" mit Funden aus der
Nazca-Kultur, das wir am Vormittag besichtigen wollen. Am Nachmittag steht dann
der Besuch einer Oase, 5 km vom Zentrum entfernt, auf unserem Programm.
Zunächst also das
Museum, das hauptsächlich mit appetitlichen Mumien und phantasievoll verformten
und aufgesägten Schädeln (Trepanationen) aus allen Epochen aufwartet.
Auf dem Weg zur Oase
kehren wir schnell noch im Hotel de Turistas ein, wo wir uns an einem
köstlichen „Pisco Sour", einer lokalen Spezialität aus Traubenschnaps,
Eierschaum, Limone, Melasse und Angostura laben.
Leicht angesäuselt fahren wir anschließend in die nahe Wüste, bei deren Anblick
uns richtige Sahara-Gefühle überkommen. Umgeben von hohen Sandbergen tut sich
uns unvermutet eine ganz andere Welt auf: in idyllischer Lage präsentiert sich
inmitten dieser unwirtlichen Umgebung die Oase Huacachina. Um den wegen
neuangelegter Tiefbrunnen leider schon stark abgesunkenen See reihen sich
einladende Gebäude und eine Promenade in etwas zu protzigem Kolonialstil.
Ich lasse es mir nicht
nehmen, auf den Gipfel eines der mächtigen Sandberge zu klettern und von dort
oben die ungewöhnliche Aussicht auf ein ungewöhnliches Naturphänomen und die
brütende Wüstensonne zu genießen. Zu unserem Leidwesen setzt sich der ganz
feine Sand in alle nur erdenklichen Ritzen, so daß es selbst beim Schreiben
dieser Zeilen noch rieselt und knirscht.
Um sechs Uhr abends soll unser Bus Richtung Arequipa starten, was sich aber aus
unerfindlichen Gründen um zweieinhalb Stunden verzögert. Während des schier
endlosen Wartens werden wir immer wieder Zielscheibe für vorbeiziehende Schüler
und Studenten, die meisten in Uniform. Neugierig fassen sie uns an oder fragen
kichernd nach der Zeit, sicher um ihre Englischkenntnisse an den Mann zu
bringen. Endlich sitzen wir im überbesetzten Bus, der uns in zwölf Stunden in
die 700 km entfernte Stadt Arequipa ganz im Süden Perus bringen soll. Schade,
daß es dunkel ist und wir die zerklüftete Landschaft entlang des Pazifik nur
erahnen können.
24.7. – Samstag
Als wir um acht Uhr in der
2400 m hochgelegenen „Weißen Stadt" ankommen, ist auf den Straßen schon
der Teufel los:
Am Spätnachmittag bekommen wir während eines ersten Rundgangs noch etwas von
dem angenehmen Klima und den Schönheiten dieser drittgrößten Stadt Perus mit.
In einem „Chifa“, einem jener chinesisch-kreolischen Restaurants, stärken wir
uns nach den Strapazen der vergangenen Nacht.
Es macht Spaß, in der schachbrettartig angelegten Stadt die quirligen
Geschäftsstraßen auf und ab zu gehen. Uns fällt auf, daß der Anteil
dunkelhäutigerer Indios gegenüber Lima und dem mehr von Weißen bewohnten
Küstentiefland hier deutlich größer ist. Schließlich sind wir auch bereits in
das andine Hochland vorgedrungen, der eigentlichen Heimat der indianischen
Urbevölkerung. Insgesamt geht man davon aus, daß heute ca. 50% der peruanischen
Bevölkerung Indios, 40% Mestizen, also Mischlinge aus Rot und Weiß, und ca. 10%
Kreolen, d.h. weiße Abkömmlinge der spanischen Kolonisten sind.
Gemeinsam mit Weiß,
Rot und Gemischt finden wir uns am späten Abend in einem Luxuskino ein, wo wir
uns für ein paar Soles den brutalen und absurden Mammutschinken „Conan, der
Barbar" zu Gemüte führen.
25.7. - Sonntag
Zum ersten Mal auf dieser Reise ziehen wir nicht rastlos weiter, sondern
verweilen noch bis einschließlich morgen in dieser Stadt voller Atmosphäre. Ihr
weißes Gesicht verdankt die Stadt dem Sillur-Tuff, einem hier vorkommenden
vulkanischen Eruptivgestein. Die hellen Bauten wirken freundlich und warm. Ein
weiterer Vorteil des Gesteins ist der, daß es einerseits leicht zu verarbeiten
und entsprechend kunstvoll ornamentiert ist und zum andern die enorme
Standfestigkeit und Solidität. So haben Kirchen und Klöster mehrere Erdbeben
weitgehend unversehrt überstanden. Bei einem Stadtrundgang können wir uns
davon überzeugen.
Als wir das berühmte Santa Catalina Kloster aus dem
16.Jahrhundert
besichtigen wollen, ziehen wir allerdings grollend wieder von dannen, da der
Eintritt für „Gringos", also für Nicht-Einheimische, 1300 Soles = fast 5
DM pro Person kostet, was wir gegenüber den üblichen Preisen als schlichte
Unverschämtheit empfinden.
Beim Stichwort
„Gringo" plagen uns böse Vorahnungen, da wir – wie es aussieht - von
nun an wahrscheinlich ständig auf Traveller, wie wir es sind, stoßen werden,
zumal wir uns den Globetrotter-Zentren Puno, La Paz und Cuzco nähern. Einen
Vorgeschmack darauf bekommen wir jedenfalls schon hier in Arequipa.
In einem Park etwas
oberhalb der Stadt geraten wir in eine „Kermess Vegetarian", eine
Vergnügungsveranstaltung, hinter deren Bedeutung wir nicht ganz steigen. Man
führt Spiele aller Art durch, junge Leute bieten uns vegetarische Schleckereien
zum Kauf an, blecherne Musik dröhnt aus den Lautsprechern, und wir liegen faul
in der Sonntag-Nachmittag-Sonne. Zwischendurch nutzt Conni die Gunst der Stunde
und verschwindet (wieder einmal) auf der (sauberen!) Toilette des Hotel de Turistas.
Im Hintergrund thront
majestätisch „El Misti“, der 5830 m hohe „Hausvulkan" Arequipas, der in
seiner an den Vesuv erinnernden Form eigentlich ganz friedlich und zahm wirkt.
Am
späten Nachmittag statten wir, wieder im Ortskern angelangt, der Sakristei der
Kirche „La Compania" einen Besuch ab. Erst 1950 wurde sie zur allgemeinen
Überraschung durch ein Erdbeben freigelegt und zeigt heute einen Kuppelbau mit
eindrucksvollen indianischen Fresken. Zwischendurch halten wir mit ein paar
Deutschen ein Schwätzchen und beschließen dann den wie immer viel zu
kurzen Tag mit einem Rommée-Marathon in unserer Pension.
26.7.
– Montag
Daß die Bewohner Perus nicht von sehr großem
Wuchs sind, kann man in direktem Vergleich Gringo - Einheimischer unschwer
erkennen. Die Durchschnittsgröße heute beträgt nur 1,55 m, während die Inkas
aufgrund einer vielseitigeren Ernährung zu ihrer Zeit noch 1,75 m im
Durchschnitt maßen. Daß als Folge dieses Schrumpfungsprozesses die hiesigen
Betten nur 1,8O m lang sind, ist für unsereinen denn doch schon ein Problem.
Nie weiß man so recht, wohin mit den sperrigen Gliedern, und so muß ich meinem
Spitznamen „Yogi" aus fernen Schülerzeiten alle Ehre machen...
Arequipa bedeutet auf Quechuan, der wieder an Bedeutung gewinnenden Sprache der
meisten Indios, „hier bleiben", was sich auf den günstigen
Siedlungsplatz und das milde Klima bezog (hier scheint an 360 Tagen im Jahr die
Sonne). Daß der Name auch für uns Bedeutung erlangt, stellt sich heute nach
endlosen Versuchen, eine Fahrmöglichkeit nach Puno zu bekommen, heraus.
Tagsüber gibt es keinen Bus, der Zug fährt erst am Mittwoch wieder, und die
Collectivos sind zu teuer. Die alternative Tour über Arica in Chile erscheint
uns zu ungewiß und auch zu kostspielig.
Somit sind also die
Würfel gefallen: wir bleiben noch einen Tag.
Diesen Entschluß
brauchen wir bestimmt nicht zu bereuen, denn es gibt noch genug an Schönem hier
zu entdecken. Wir entfernen uns vom geschäftigen Treiben der Innenstadt und
unternehmen eine kleine Wanderung durch Yanahuara, einem Wohnvorort von
Arequipa. Nachdem wir eine Anhöhe erklommen haben, können wir einen wunderbaren
Rundblick über die Stadt mit den umliegenden Bergen und Vulkankegeln bei feurigem
Abendrot genießen. Bei unserem Rückmarsch staunen wir nicht schlecht über die
z.T. luxuriösen Bungalows, die unseren Weg säumen. Wenn auch an anderen
Stellen der Stadt die Armut unübersehbar ist, so kann man doch insgesamt davon
ausgehen, daß Arequipa sicher zu den wohlhabenderen Orten Perus zählt, was
sich in dem äußeren Erscheinungsbild deutlich widerspiegelt.
Im Zentrum herrscht am
Abend ein überschäumender Trubel. Menschenmengen und Autokarawanen schieben
sich durch die Straßen. Von überall her dringt dröhnende Musik; in allen
Lokalen laufen wie üblich die Fernseher, so auch in unserem „Bavaria", wo
wir ein komplettes Menü für umgerechnet 3,50 DM zu uns nehmen. Eine bayerische
Landschaft und ein Schuhplattler-Ensemble auf der Hauptwand des Lokals sorgen
für eine „echt peruanische" Atmosphäre. Im nahegelegenen Theater wohnen
mir mehr aus Zufall einer Ballettaufführung der Universität bei. Gezeigt werden
folkloristische Tänze in schönen bunten Trachten. Der Eintritt ist frei; doch
lange halten wir es nicht aus, da es ziemlich zieht und wir beide uns ziemlich
angeschlagen fühlen.
27.7. – Dienstag
Heute und in den
kommenden zwei Tagen wird der Nationalfeiertag begangen. Gefeiert wird
die Unabhängigkeit von den spanischen Kolonialherren, die von 1533 bis 1821
hier herrschten und die erst in einer knappen Entscheidungsschlacht von Simon
Bolivar, dem großen südamerikanischen Freiheitskämpfer, geschlagen wurden.
Viele Häuser sind mit Flaggen geschmückt.
Wir machen uns auf,
die beste Gelegenheit zur weiteren Erkundung der Umgebung zu ergreifen, indem
wir uns einfach in einen der vorbeifahrenden Busse schwingen. Ziel ist der
Vorort Tingo, wo es laut Reiseführer einige Bäder und Freizeitanlagen geben
soll. Unsere Suche endet zunächst auf einer wilden Müllkippe, die uns
schnellstens zum Umkehren bewegt. Der spanischen Ausspracheregeln noch nicht
ganz mächtig finde ich bald den Grund für unseren „Irrweg" heraus:
Statt „lago"
(See) so auszusprechen, wie es geschrieben wird, hatte ich eine Indio-Frau
immer nach „lacho" befragt, was es aber im Spanischen nicht gibt, so daß
sie uns sicherheitshalber erst mal in Richtung Müllkippe geschickt hat... Eine
weitere Busfahrt durch staubiges Gelände bringt uns dann doch noch an unser
Ziel, das sich allerdings recht bescheiden ausnimmt.
Interessanter ist da
schon das „Collegio Max Uhle", eine deutsche Schule, vor deren Toren wir
nach wenigen hundert Metern stehen. Das Haupttor ist nicht verschlossen, so daß
wir das Schulgelände betreten können. Alles sieht wie ausgestorben aus, bis
uns ein paar Angestellte freundlich ansprechen und uns die Adresse eines
deutschen Lehrers in Arequipa in die Hand drücken. Es sind Ferien. Uns wundert
etwas, daß auf einer Namensliste der Schüler nur einheimische und keine
deutschen Namen vertreten sind.
Zurück in Arequipa
schließen wir uns um halb vier einer lange Schlange vor dem Bahnhof an in der
Hoffnung, zwei der begehrten Tickets nach Puno für den morgigen Tag zu
ergattern. Das Warten und Zittern dauert eine Stunde, und endlich halten wir
nach einigem Hin und Her die begehrten Scheine triumphierend in unseren
Händen.
Schon wenig später
allerdings reicht das Triumphgefühl dem tiefer Bestürzung, als wir im Fotoladen
unser 1,4er Objektiv für die Spiegelreflexkamera abholen. Wegen einer dummen
Unachtsamkeit war in der Oase bei Ica Sand in das Objektiv gelangt, was
uns nun die Kleinigkeit von 19000 Soles oder knapp 70 DM kostet. Bei unserer
sparsamen Art zu reisen, ist dieser Schock nicht ganz leicht wegzustecken. So
sind wir heute Abend im doppelten Sinn des Wortes verschnupft. Ein Feuerwerk
und mächtig Remmi-Demmi auf der hell angestrahlten Plaza de Armas stimmen uns
dann wieder versöhnlicher. Als einem Kometen gleich direkt neben uns ein noch
brennender Feuerwerkskörper herniederkommt, sehen wir doch bald zu, daß wir
hier wegkommen.
28.7. - Mittwoch Arequipa - Puno
Daß Peru 15 Mal größer
ist als die Bundesrepublik, jedoch nur 15 Mio. Einwohner hat, können wir beim
Durchfahren der endlosen Sierra, dem peruanischen Hochland, in etwa erahnen.
Über weite Strecken trostloses, karges Land; nur gelegentlich sind einzelne
Steinhäuser oder kleine Ansiedlungen zu erkennen. Wir befinden uns auf der
Fahrt von Arequipa nach Puno.
Pünktlich um halb zehn
ging's los durch laut Reiseführer eine der schönsten und interessantesten
Strecken von Peru. Dieses hat sich anscheinend herumgesprochen: Außer uns
befinden
sich neben vielen Deutschen und Franzosen Amerikaner, Engländer, Finnen (z.T.
ganze Familien) und sogar einige Einheimische im Zug, so daß man schon von
einem echten Treck in diesem Fall gen Osten sprechen kann. Uns gegenüber sitzt
ein junger Schweizer, der bereits seit vier Monaten kreuz und quer durch
Südamerika unterwegs ist. Beneidenswert, zumal er in dieser Zeit blendend
Spanisch sprechen gelernt hat. Unsere Unterhaltungen sind so kurzweilig und
anregend, daß der Gesprächsstoff sicher für mehre Bahnfahrten ausreichen würde.
Zwischendurch müssen
mir unseren peruanischen Nachbarn mehrmals in seiner Ruhe stören, dann
nämlich, wenn wir wie aufgeschreckte Hühner aufspringen, um eines der
vielen herrlichen Landschaftsmotive auf Zelluloid zu bannen.
Überhaupt hält es uns
kaum auf den Plätzen, und so betätigen mir uns immer wieder als
Trittbrettfahrer, indem wir einfach bei offener Waggontür auf dem Trittbrett
sitzen oder stehen und die Fahrt sozusagen „open air" genießen. Durch die
Sonne ist es noch warm, jedoch merken wir am kalten Fahrtwind, daß wir uns dem
höchsten Punkt auf dieser Strecke in 4490 m nähern.
Während eben noch Krüppelgewächse und
Kakteen zu sehen waren, bestimmen nun weidende Lamaherden und stacheliges
Punagras das Landschaftsbild, wir haben die Höhenstufe der „Puna" Bald
schon ist eine große Lagune in Sicht, um die herum sich der Zug lange
schlängelt und die mit ihrem satten Blau und den z.T. schneebedeckten Bergen im
Hintergrund einen wunderbaren Anblick darstellt.
Immer schneller wird
die Fahrt, immer seltener taucht der Mann mit der Sauerstoffmaske auf, der den
Passagieren helfen soll, die von „Soroche“, der berüchtigten Höhenkrankheit
geplagt
werden. Im Gegensatz zu anderen Reisenden merken mir noch nichts - trotz der
ungewöhnlichen Höhe. Endlich erreichen mir Juliaca, die letzte Station vor
Puno. Es ist schon dunkel, und draußen wird uns ganz schön kalt. Trotz
tropischer Breiten soll es hier in dieser Höhe manchmal bis zu -10°C kalt
werden. Um die lange Zeit des Wartens auf die Weiterfahrt zu überbrücken,
vertreten mir uns auf dem Bahnsteig die Beine und lassen uns dabei blenden von
Alpaca-Pullovern, Wandteppichen, Mützen, Handschuhen usw. Indio-Frauen
bedrängen uns heftig, reden auf uns ein, und schon sind wir mitten im Feilschen
um zwei Alpaca-Pullover. Alle Frauen versuchen, sich mit Sprüchen wie
„es bonito, es barata, es muy grande" und vor allem mit „es puro Alpaca“
(schön, billig, sehr groß und echt Alpaca) gegenseitig zu übertrumpfen. Wenig
später sind wir für umgerechnet 20 DM im Besitz der wärmenden Muß-Andenken, die
ein jeder Reisender quasi als Aushängeschild für die hinter sich gebrachte
Peru-Fahrt besitzen und vorzeigen muß. Weniger wegen des gelungenen Handels als
vielmehr wegen der extremen Höhenlage wird es mir nun doch noch etwas
schwindelig.
Um acht Uhr kommen wir
in Puno am Titicacasee in 3830 m Höhe an.
Da wegen der vielen
Traveller, die hier täglich ankommen, die Hotelsituation schwierig werden kann,
bietet sich uns nun ein groteskes Bild: wie ein aufgeschreckter
Heuschreckenschwarm quält sich die Menge der Reisenden durch das enge Bahnhofstor
und schwärmt dann eilig in Richtung Innenstadt aus. Dabei behält man natürlich
das teure Gepäck wegen der angeblich vielen Diebe sorgsam im Visier und
umklammert die schützende Taschenlampe, da pechschwarze Nacht herrscht. Wir
verhalten uns nicht anders und bekommen zusammen mit Markus, dem urigen
Schweizer, mit Glück ein Dreibettzimmer im „Europa".
Nach kurzer
Verschnaufpause sitzen wir bald darauf in einem abgelegenen Lokal, nehmen ein
einfaches und billiges Mahl zu uns ("trucha" = Forellen aus dem
Titicacasee sind heute leider nicht zu haben) und trinken erstmals Coca-Tee,
ein mit Cocablättern zubereitetes Getränk. Bei meinem Versuch, durch Herumkauen
auf den Blättern den Indios gleich ein Rauschgefühl herbeizuführen und die
Strapazen des Tages zu vergessen, habe ich wenig Erfolg.
Markus wird uns morgen
wieder verlassen, um schnell über La Paz nach Brasilien weiterzureisen.
29.7. -
Donnerstag Puno – Taquile
Es ist denkbar, daß noch vor drei, vier Jahren ein Ausflug
zur Insel Taquile sehr abenteuerlich gewesen ist - so jedenfalls ist es in
einem Artikel in der „Zeit" im Jahre 79
beschrieben. Heute ist es zumindest noch ein aufregendes Erlebnis.
Um halb zehn geht die
Fahrt in einem vollbesetzten kleinen Motorboot los. Vorbei an einem gesunkenen
Schiff, dessen Heck aus dem Wasser ragt, an einsamen Fischern in Schilfbooten
vorbei durch sauberes, tiefblaues und nur etwa 100 C kaltes Wasser führt uns die Exkursion über
dreieinhalb Stunden zu der 24 km entfernten Insel.
Außer uns sind noch
etwa 6 Passagiere mit Rucksäcken an Bord die wie wir die Nacht dort verbringen
und nicht nur in einer Stunde über die Insel jagen wollen. Dazu zählt auch ein
japanisches Pärchen, das unermüdlich versucht, einigen mitfahrenden Indios das
Nagasaki-Lied auf Japanisch beizubringen. Auch ein älteres amerikanisches
Ehepaar, das wir im Verlaufe unseres
Inselaufenthaltes immer wieder treffen und für das ich ein bißchen Dolmetscher
spiele, will die Nacht auf dem Eiland verbringen. Außer „gracias" sprechen
sie, glaub' ich, kein Wort Spanisch, und ich wundere mich, wie blauäugig und ohne Sprach- oder Kulturkenntnisse manche Amis in
die Ferne fahren und darauf hoffen, daß sich alles von selbst regelt.
Nach unserer Ankunft
müssen wir erst mal kräftig klettern. Scheinbar unendlich lange dauert der
anstrengende Aufstieg, nachdem wir an einer improvisierten Passierstelle
registriert worden sind und man uns einen Patron für die Nacht zugewiesen hat.
Endlich erreichen mir das „pueblo", das kleine Dorf. Wir haben offenbar
großes Glück, denn hier wird gerade ein Heiligenfest (zu Ehren des St. Jakob)
gefeiert, das uns gleich in seinen Bann zieht. Just bei unserem Erscheinen
setzt sich eine Tanzgruppe auf dem staubigen Dorfplatz in Bewegung und
vollführt ein Spektakel ganz eigentümlicher Art:
Männer in bunten Trachten mit einem
Kopfschmuck aus Federn, an denen Spiegel befestigt sind (um böse Geister zu
vertreiben!) umkreisen einige in Gegenrichtung laufende Frauen in schlichten
rot-schwarzen Gewändern und einen schwarzgekleideten Trommler. Lange
Perlenschnüre verdecken die Gesichter der Männer. Während die Frauen alle
barfüßig sind, tragen die Männer Gummisandalen aus zugeschnittenen Autoreifen.
Auf langen Flöten wird ununterbrochen eine eintönige, aber rhythmische und
eingängige Melodie gespielt. Dieser rituelle Vorgang, dessen Sinn wir nicht
erfassen können, wiederholt sich an verschiedenen Stellen des Platzes mit
kleinen Variationen immer von Neuem.
Natürlich sind wir nicht die einzigen
Zuschauer. Wir empfinden es als beschämend, wie sich manche Fotojäger direkt
vor einige verunsichert lächelnde Inselbewohner postieren, um ihr „einmaliges
Eingeborenenfoto“ in Kasten zu bekommen. Den Vogel schießt allerdings ein Typ
ab, der mit einem Walkman in der Hand, den Kopfhörer übergestülpt, tänzelnd
über die Plaza wippt.
Um den Platz herum sind überall Stände aufgebaut, an denen unheimlich diffizil
gearbeitete Wollprodukte, wie Mützen, Jacken und Hemden zum Verkauf angeboten
werden. Erst bei näherem Betrachten der kleinwüchsigen, scheinbar immer
freundlichen Menschen hier fällt uns ein Phänomen auf, das einen glauben macht,
man befinde sich in einem Märchenland:
wo man auch hinsieht, sitzen oder stehen Männer in ihrem Festtagsstaat und
stricken, stricken, stricken ... Während die meisten Frauen nur herumsitzen
oder spinnen, fertigen die Männer und auch schon kleine Jungen in Windeseile
wahre Meisterwerke in Sachen Stricken an. Es ist richtig fesselnd, ihnen
zuzusehen.
So verweilen wir eine Zeit und folgen dann wieder unserem zugewiesenen Führer
zu unserem heutigen Domizil. Dieses liegt so ziemlich am höchsten Punkt der
Insel, so daß Conni japsend (wir sind immerhin ca. 4000 m hoch) zwischendurch
ihren Rucksack an unseren Hausherrn übergibt, welcher diesen dann die letzten
Meter hochschleppt. Von unserem schlichten Lehmhaus aus hat man einen schönen
Rundblick über die gesamte Insel. Weniger attraktiv ist unsere Schlafkammer,
die mehr einer Höhle gleicht. Auf zwei Steinliegen sind Strohmatten ausgelegt,
die uns als Betten dienen sollen. Fenster gibt es nicht. Auch kein Wasser oder
Strom, geschweige denn Toiletten. Wohin die Einheimischen ihre Geschäfte
machen, ist uns bis zum Schluß ein Rätsel geblieben. Aber eigentlich sind wir
ganz froh, den Segnungen der Zivilisation so fern zu sein. Nur der obligate
Cassettenrecorder fehlt auch hier nicht.
Am Nachmittag machen
wir uns auf, die wunderbare Inselwelt zu erkunden, Während uns bei der Ankunft
die Insel etwas schroff und ausladend vorgekommen ist, so spüren wir spätestens
jetzt den ihr eigenen Charme. Neben kargen Feldern mit spärlichem Bewuchs
trifft man auf Schafe, vereinzelte Steinhäuser, Unmengen geschickt angelegter
Steinwälle und dazwischen ein paar präkolumbianische Kult-Monumente.
Ein herrlicher Sonnenuntergang im Titicacasee, die Ruhe und die wunderbare
Landschaft machen unser Glück vollkommen. Manchmal tauchen Kinder auf, denen
wir Kaugummi und anscheinend heißbegehrte Sicherheitsnadeln schenken. Es wird
wie üblich sehr schnell dunkel, und wir erreichen bald unsere Hütte.
Dort kommen wir mit unserem „Zimmer"-Vermieter ins Gespräch, wenn man den
Austausch von einigen Sprachbrocken und hilflosen Gesten als solches bezeichnen
kann. Immerhin bekommen wir spitz, daß er auf Connis (Woolworth-) Armbanduhr,
die eigentlich meine ist, richtig scharf ist. Seine Beteuerungen „me gusta, me
gusta“ (die gefällt mir) steigern sich zu einem weinerlichen Drängen, dem ich
kaum noch widerstehen kann. Als ich erfahren muß, daß er nie wisse, wann das
Touristenboot ankommt und ihm so mögliche Einnahmen verloren gingen, kann ich
nicht mehr. Was er uns denn anzubieten habe, frage ich vorsichtig. Geschwind
ist eine selbstgestrickte Mütze herbeigezaubert, die stark einer bunten
Kasperle-Mütze ähnelt, aber mit feinen Mustern durchsetzt ist. Natürlich paßt
sie weder Conni noch mir, doch wir machen den Handel perfekt in der Hoffnung,
daß die Batterie meiner mir verbliebenen Armbanduhr bis zum Schluß hält.
Außerdem gibt's auch noch ein zwar spartanisches, dafür aber kostenloses Abendessen.
Die Übernachtungskosten für das „Doppelzimmer" von 1000 Soles = 3,60 DM
waren vorher schon festgesetzt worden. In mir macht sich das Gefühl breit,
einen winzigen, wenn auch vielleicht überflüssigen Beitrag zur
Entwicklungshilfe geleistet zu haben.
30.7. - Freitag Taquile - Puno
Kalt war die Nacht,
und nach einem Frühstück mit Tortillas und Eukalyptustee wärmen wir uns in der
Sonne wieder auf. Die Insel ist bei genauerer Betrachtung kleiner als gedacht.
Ein friedlicher Spaziergang über Felder und zahllose Steinwälle gestaltet sich
zu einem längeren Marsch, in dessen Verlauf wir wiederholt um die begehrten
Sicherheitsnadeln gebeten werden. Die Neuigkeit scheint unter den 940
Inselbewohnern rasch herumgekommen zu sein.
In etwa eineinhalb
Stunden ist die Insel umrundet, und wir müssen schon wieder an die Rückfahrt
denken.
So erreichen wir das
Festland bereits am späten Nachmittag bei hereinbrechender Dunkelheit. (Später
erfahren wir, daß wenige Tage nach unserer Fahrt auf dem Titicacasee ein
ebenfalls mit Touristen beladenes Boot aus nicht bekannten Gründen gekentert
ist. Dabei sollen drei Insassen ums Leben gekommen sein.) Den Abend verbringe
ich damit zu versuchen, an allen erdenklichen Stellen von Puno unsere
vermaledeiten Traveller-Schecks einzulösen. Kleine „Hilfsarbeiter", die
sich ein paar Soles verdienen wollen, sind mir dabei behilflich, doch schaffen
auch sie es nicht, daß meine Scheck-Dollars irgendeinen Abnehmer finden. Hier
legt man Wert auf Bar-Dollars, und die besitzen wir ja leider nicht.
So sitzen Conni und ich ratlos in unserem Hotelzimmer und fluchen leise vor uns
hin, da wir vorhin noch einige Soles für völlig überflüssigen Käse und Rum
ausgegeben haben. Und nun sind wir fast pleite und unsere Weiterfahrt nach La
Paz gefährdet. Die Banken werden morgen am Samstag geschlossen bleiben. Doch
unser Schutzengel läßt nicht lange auf sich warten: Auf dem Weg zur Toilette
begegnet mir auf dem Flur nur zwei Zimmer weiter unser Essener Lehrerpaar, mit
dem wir vor zehn Tagen in Lima zusammen ein Vierbettzimmer bewohnt haben. Nach
ausführlichem Erfahrungsaustausch kommen wir zum Punkt: das liebe Geld.
Kurzerhand zückt der Herr Lehrer einen 500 Soles-Schein, der unser morgiges
Vorhaben retten könnte. Wiedertreffen werden wir uns ja sowieso ...
31.7. – Samstag Puno - La Paz
Wegen der Ungewißheit,
ob wir unser Tagesziel La Paz erreichen werden oder nicht, habe ich schlecht
geschlafen. Etwas zerknittert sind wir schon früh auf den Beinen, nachdem wir
unseren kleinen Helfern von gestern Abend mitgeteilt haben, daß wir den um
sieben Uhr startenden Durchbus bis La Paz wegen unserer unsicheren Finanzlage
nicht nehmen können. Nähmen wir diesen Bus, hätten wir keinen einzigen Sol mehr
in der Tasche, und angeblich verlangt man bei Eintritt nach Bolivien eine
Grenzüberschreitungsgebühr. Weitere Versuche, irgendwo in dieser Stadt Schecks
einzutauschen, bleiben ohne Erfolg. Und ob man an der Grenze Bargeld für
Schecks bekommt, ist auch nicht zu erfahren.
An einer Busstation,
von wo die primitiven Indiobusse Richtung Grenze fahren, treffen wir zu unserer
großen Freude zwei Österreicher, die wir gestern auf Taquile kennengelernt
haben, wieder. Vielleicht können die beiden uns weiterhelfen, wenn Not am Mann
ist. Wir holen schnell unsere Rucksäcke und besteigen dann einen Bus nach
Yunguyo an der peruanisch-bolivianischen Grenze. Zunächst verläuft die Fahrt
gemächlich auf geteerter Straße mit schönen Ausblicken auf den Titicacasee,
vorbei an Feldern, an Bündeln getrockneten Schilfs und einem Tiermarkt, wo
Rinder, Schafe und Lamas gehandelt werden. Ganz abrupt endet plötzlich die
Teerstraße, die nun in eine unglaubliche Holperstraße mündet. Für uns, die wir
ganz hinten sitzen, wird's von nun an zu einer echten Marterstrecke, die alle
Asien-Erfahrungen in den Schatten stellt. Hoffentlich sind keine schwangeren
Frauen im Bus!
Zwei Stunden dauert die Ganz-Körper-Massage für die 30 km, und endlich sind wir
in Yunguyo. Schnell werden noch die letzten Soles bei einem der uns schon
erwartenden Schwarztauscher in bolivianische Pesos umgetauscht. Dann noch
meinen 20 Dollar-Scheck in letzter Minute einem Gauner wieder entrissen, der
uns mit einem „Superkurs“ reinlegen wollte, und rein in den nächsten Bus nach
Copacabana. Die Grenzformalitäten sind relativ schnell erledigt, wenn auch
einer der beiden Österreicher eigentlich Österreich-Peruaner ist, fast noch in
Schwierigkeiten gekommen wäre. Ein Geldschein regelt die Angelegenheit.
Wenig später erreichen
wir Copacabana, den sehr reizvollen ersten Ort auf bolivianischer Seite. Hier
werden wir auf unserer Rückfahrt von La Paz noch Station machen. Leider gibt es
keinen Anschlußbus mehr nach La Paz, so daß die beiden Österreicher und wir ein
Taxi in die Hauptstadt chartern. Die Kosten für die 150 km lange Fahrt sind
äußerst gering, wenn uns auch einer der beiden Studenten erwartungsgemäß etwas
vorstrecken muß. Für die zwar etwas umständliche, dafür aber umso
abwechslungsreichere Fahrt von Puno nach La Paz müssen wir somit insgesamt nur
ca. 14 DM pro Person berappen, während es bei „Transtourin", einer
überregionalen Busgesellschaft, immerhin 50 DM gekostet hätte.
Die Taxifahrt von
Copacabana nach La Paz gehört zu dem Schönsten, was ich an Landschaftlichem
bisher kennengelernt habe. Unglaubliche Ausblicke auf den Titicacasee, der mit
seinen 194 km Ausdehnung der höchste schiffbare See der Welt ist und der uns
unendlich groß erscheint, paaren sich mit herrlichen Aussichten auf die
Königskordilleren mit ihren schneebedeckten Sechstausendern. Nachdem wir per
Fähre die Halbinsel hinter uns gelassen haben, erreichen wir bald die
unverwechselbare Anden-Hochebene, das „Altiplano". Die Landschaft hier ist
geprägt von einer fast vegetationslosen, bräunlichen Fläche, die meist
tischeben ist.
Der Taxifahrer erzählt von einem möglichen Generalstreik für die kommenden
Woche, falls die Militärregierung nicht zurücktritt. Keine guten Nachrichten
für uns, da wir unter Umständen in die Bredouille geraten könnten: Ausgangssperre,
evtl. Ausreiseverbot oder vielleicht sogar ein Putsch, was in Bolivien ja
keineswegs eine Seltenheit ist.
Kurz nach
Sonnenuntergang sehen wir La Paz vor uns, Ein wunderbares Lichtermeer breitet
sich zu unseren Füßen aus Der höchste Punkt von La Paz befindet sich in 4100 m,
der niedrigste in 3100 m Höhe. Wir finden bald ein preiswertes Hotel und
versuchen nun erneut unser Glück mit Geld- bzw. Scheckwechseln.
Auf einen Tip unseres
Hoteliers hin treffen wir in der Calle Camacho auch schon bald auf
Schwarztauscher, die sogar auf Schecks scharf zu sein scheinen. So tauschen wir
unmittelbar vor den Augen der Polizei zu einem unglaublichen Kurs 50 Dollar und
bekommen pro Dollar 150 Pesos; der offizielle Kurs soll vor noch wenigen
Monaten 1:40 und weniger betragen haben. Endlich wieder Bargeld im
Portemonnaie! Kurz darauf nutzen wir die Gunst der Stunde und begeben uns auf
Anraten zweier Französinnen aus unserem Hotel in eine „peña“, einem Typ von
Lokal, das auf einheimische Folkore spezialisiert ist. So sitzen wir bis kurz
nach Mitternacht mit den beiden Österreichern, die für meinen Geschmack etwas
zu großkotzig sind, unter einer ganzen Anzahl anderer Traveller bei
faszinierender Indiomusik und abwechselnden Tänzen. Typische Instrumente sind
Queňa-Flöten, die bei uns als Panflöten bekannt sind, Charangos, kleine
10-saitige Mandolineninstrumente mit Bäuchen aus Gürteltierpanzern, sowie
verschiedene Schlaginstrumente Es war ein langer Tag, und am Schluß der
Vorstellung fallen mir vor Müdigkeit die Augen zu.
Einige Informationen
zu Bolivien und La Paz: Die Gesamt-Einwohnerzahl des zweitärmsten Landes in
Lateinamerika (das ärmste ist Haiti) beträgt knapp sechs Mio., von denen 70%
Indios, 25% Mestizen und 5% Kreolen sind. Die Landesfläche ist etwa viereinhalb
Mal größer als die der BRD, wobei im tropischen Tiefland, in den Yungas, die
Besiedlung extrem dünn ist. Bolivien träumt seit geraumer Zeit von einem Zugang
zum Meer, den es einst im sog. Salpeterkrieg vor gut hundert Jahren an Chile
verloren hat.
La Paz, wie Lima ein Magnet für die überwiegend unter dem Existenzminimum
lebende Landbevölkerung, ist mit 800 000 Einwohnern die mit Abstand größte
Stadt Boliviens. Über die sich unfreiwillig ablösenden Militärdiktaturen gibt
es wenig Rühmliches zu berichten. Man kennt kaum den Namen des momentan
regierenden Präsidenten. Vor zwei Jahren hat es hier demokratische Wahlen
gegeben, aus der ein linksliberaler Politiker als Sieger hervorging. Nach Sitte
der Diktaturen hat man sich einen Dreck darum gekümmert, und der rechtmäßige
Präsident darf auch weiterhin im Ausland im Exil auf einen Wechsel hoffen. Zu
La Paz wäre noch anzumerken, daß es die höchste Hauptstadt der Welt ist, die
1548 wegen der im Altiplano tiefeingeschnittenen günstigen Kessellage von den
Spaniern gegründet worden ist.
1.8. - Sonntag
Vom großen Anteil der
Indios an der Gesamtbevölkerung war eben die Rede, und im Indioviertel schlagen
wir heute auch unsere Zelte auf; genaugenommen im Hotel Panamericano, das schon
zur besseren Hotelkategorie zählt. Wir befinden uns nämlich im Peso-Rausch:
Nachdem wir diesen sagenhaft günstigen Dollarkurs bekommen haben, kostet uns
gegenüber dem früheren Kurs alles nur noch ein Fünftel. So bezahlen wir z.B.
für unser neues, komfortableres Hotelzimmer (mit eigener Dusche!) lediglich
umgerechnet 10 statt 50 DM. Und in diesem Verhältnis geht es beim Essen,
Busfahren, Kino etc. weiter. Woher dieser Kursverfall rührt, wissen wir nicht -
vielleicht hängt es mit der neuerlichen Regierungskrise zusammen. Auf alle
Fälle hat man hier und heute auf Schritt und Tritt die Präsenz von bewaffnetem
Militär vor Augen (vielleicht als Machtdemonstration?).
Unser erster
Erkundungsgang durch die in ihrem äußeren Erscheinungsbild mit Wolkenkratzern
in der Mitte und endlosen Armenvierteln an den Hängen an Caracas erinnernde
Stadt führt zunächst durch ein riesiges Indioviertel. Bis hoch hinauf ziehen
sich bunte Marktstände mit einem unheimlichen Warenangebot. Unsere Neugier wird
ganz besonders auf dem „Zaubermarkt" geweckt, auf dem in rauhen Mengen
getrocknete Lama-Embryos angeboten werden. Wie wir in Lössls Peru-Bolivien-Buch
nachlesen konnten, werden diese Embryos beim Hausbau in die vier Hausecken
eingemauert, damit sie Glück bringen und Elend und Leid von den Bewohnern
abhalten.
Irgendein
Zaubermittelchen täte Conni heute sicherlich ganz gut; denn sie wirkt ziemlich
angeschlagen: Nach Halsschmerzen, Schnupfen und leichtem Husten hat nun
Montezuma anscheinend seine Hand im Spiel. Der erste „durchschlagende“ Erfolg
in Form von Durchfall und entsprechenden Darmbeschwerden hat sich eingestellt.
Ich habe zum Glück noch keinen Grund zum Klagen.
Nach dem Indioviertel
ist der weitaus mondänere Prado dran. Dieser bildet mit Hochhäusern, Kinos,
feinen Restaurants, Botschaften und einer Prachtstraße das Stadtzentrum. In
einem Nobelhotel defilieren Conni und ich forsch am Türsteher und der
Portiersloge vorbei und lassen uns vom Fahrstuhl zum obersten Stockwerk
bringen, Von hier oben hat man einen guten Rundblick, was ich mit der Kamera
festzuhalten versuche.
Leider sind sowohl das nahe Goethe-Institut alsauch das Museum Casa de Murillo
entgegen den Reiseführerinformationen geschlossen. Aber wieviel hat da bisher
schon nicht gestimmt! Merkwürdig auch, daß wir über eine Stunde nach einem geöffneten
Lokal suchen müssen, Es gibt eine Menge an Tagebucheintragungen nachzuholen,
und um halb zehn gehen wir noch in das benachbarte Kino, wo wir uns Mel Brooks
„Historia del Mundo“, die „verrückte Geschichte der Welt" ansehen.
2.8. - Montag
Die noch nicht so sehr auf Tourismus
getrimmten Indios von La Paz lassen sich nicht gern fotografieren. Sie
fürchten, daß man ihnen auf diese Weise die Seele stehlen könnte. Und so kommt
es, daß selbst bei dem Versuch, einen kleinen Schuhputzer, der Connis Schuhe von
all dem vielen Schmutz befreit, abzulichten, dieser eilig die Mütze übers
Gesicht zieht und den Kopf wegdreht.
Die Marktfrauen, meist mit kleinen Kindern in bunten Tragetüchern, sehen in
ihrer Breithüftigkeit wie brütende Hennen aus, wenn sie mit der charakteristischen
„Melone“ auf dem Kopf hinter ihren Ständen hocken.
Der Generalstreik scheint nicht stattzufinden" denn das Leben in den Straßen
pulsiert wie eh und je. Mit unseren billigen Pesos in der Tasche läßt es sich
gut Geschäfte abklappern. Heute sind auch die vielen Läden mit Alpaca-Stricksachen
(Alpaca-Schafe gelten übrigens als die „Wolleweltmeister“), Umhängetaschen,
günstigen Silbersachen und vielem mehr geöffnet. Es dauert dann auch nicht
lange, bis wir fündig werden: ich entdecke eine wunderbare gewebte Alpaca-Weste
zum Spottpreis, Conni erwirbt kleine Silberkettchen mit indianischen Anhängseln
und endlich wieder Wolle zum Stricken.
Das Tiahuanaco Museum ist (angeblich schon seit Jahren) geschlossen, dafür hat
heute das Goethe-Institut geöffnet. Hier können wir die „neueste" Süddeutsche
vom 28.7. studieren.
Unsere Ausflugspläne
sind in Frage gestellt, da uns die Dame vom Tourist Office erzählt, daß zwar
kein Generalstreik zu erwarten sei, dafür aber die Straßen außerhalb von La Paz
durch protestierende Campesinos blockiert werden. Die Landarbeiter kämpfen für
gerechteren Lohn und gegen die Wahnsinnsentwicklung beim Währungsverfall des
Pesos mit entsprechender Inflation. Hoffentlich können sie wenigstens einen
Teil ihrer Forderungen durchsetzen, wo selbst wir als die relativ Reichen von
der Wechselkurs-Baisse profitieren: Der Peso steht inzwischen im Verhältnis
1:175 zum Dollar!
In einem
China-Restaurant kommen wir mit einem Schweizer ins Gespräch, der an einem
Selbsthilfeprojekt bei Puna mitarbeiten will. Dort hat sich eine Gruppe
zusammengetan, die die hier viel zu billig verkauften Wollsachen organisiert
und koordiniert in anderen Ländern, ähnlich der „Jute statt Plastik“-Aktion,
vertreiben will. Das Haupthindernis dürfte dabei der aufgeblähte Bürokratismus
sein, der ja gerade in Ländern der Dritten Welt unglaubliche Blüten treibt.
Kino in La Paz ist
immer ein schönes und preiswertes Vergnügen, selbst wenn es sich um einen
Schinken wie „Auf dem Highway ist die Hölle los“ handelt. Die Filme werden
übrigens immer im Original mit spanischen Untertiteln gezeigt.
3.8. - Dienstag
Heute ist mein
Geburtstag, noch dazu der dreißigste; und da wollen wir zusehen, daß wir mal
wieder eine größere Tour auf die Beine stellen. So ziehen wir mit leerem Magen
gegen zehn bergauf durchs Indioviertel vorbei an einem riesigen Friedhof auf
der Suche nach einem Busbahnhof. Nach einiger Fragerei finden wir diesen auch
und haben (wieder mal) Glück: Wir springen in einen der wartenden Busse,
welcher schon im nächsten Moment genau dahin abfährt, wo wir hinwollen, nämlich
nach Tiahuanaco. Tiahuanaco, 70 km von La Paz entfernt, ist die wichtigste
präkolumbianische Kulturstätte aus der Zeit zwischen 500 und 1000 n.Chr.
Bevor wir diese
erreichen, kommen wir zuerst wieder einmal zu einer Zwangspause: Wie schon so
oft streikt der Bus. So heißt es nach einiger Fummelei alle kräftig Schieben,
und weiter geht die Fahrt. Inmitten des weiten und rauhen Altiplano sehen wir
bald die Ruinen nahe der Straße liegen.
Kleine und große Jungen versuchen, mit uns ins Geschäft zu kommen, indem sie
„original antike" Figuren, wahrscheinlich made in 1982 anbieten. Außer uns
ist kaum jemand unterwegs, so daß wir in aller Ruhe und völlig ungestört durch
die Kult-Stätte spazieren, zwischendurch faul in der Sonne liegen und über die
Bedeutung des ehemaligen Wallfahrtsortes aus der Vorinkazeit nachlesen können.
Prachtstück der Anlage ist ein gut erhaltener Monolith, eine aus einem riesigen
Stein gehauene Götterfigur (siehe nächste Seite). Weitere Attraktionen sind das
ebenfalls aus einem Stein gefertigte mächtige Sonnentor und die diversen unter-
und überirdischen Tempelanlagen. Nach längerer Unterhaltung mit einem einsamen
Lama gilt unser nächster Besuch einer zweiten Kultstätte etwas außerhalb des kleinen
Ortes. Auf einem Hügel liegen Steinplatten und -blöcke so kreuz und quer
durcheinander, daß man an eine Naturkatastrophe glauben könnte, die hier
gewütet hat. Aufgrund einiger Fische-Darstellungen sind manche Forscher der
Meinung, daß Tiahuanaco ein Hafen gewesen sei, was bedeuten würde, daß sich der
20 km entfernte Titicacasee in den vergangenen Jahrhunderten enorm abgesenkt
haben muß.
Nach soviel Bildung
stürzen wir uns erneut in das Abenteuer einer Fahrt mit dem Indiobus. Für die
70 km bis nach La Paz bezahlen wir nur etwa 80 Pfennige (ein gutes Beispiel für
unsere Verkehrsbetriebe!) und sind zu unserer Freude wiederum die einzigen
Gringos im Bus. Diesmal bringen wir die zweieinhalb Stunden ohne Panne, dafür
aber im Stehen auf der unmöglichen „Abtreibungsstrecke“ hinter uns.
Zwischendurch wird an zwei Stationen gründlich kontrolliert; wie wir beim
zweiten Mal herausfinden, um nach Schmuggelware aus Peru zu fahnden.
Der fast
ausschließlich von Indiofrauen belegte Bus scheint ein gutes Schmuggelvehikel
zu sein; denn jedesmal wandern zahlreiche Päckchen mit Waschpulver und
Ähnlichem durch den Bus und verschwinden in Taschen oder unter den dicken
Röcken der Frauen. So wird auch mir ein solches Paket zugeschoben, das denn
auch brav unter meiner Fototasche verschwindet. Nach der Kontrolle wird
schmunzelnd alles an den oder die Besitzer zurückgegeben, und als in der Ablage
aus einem zappelnden Sack ein unüberhörbares Quieken dringt, ist die Heiterkeit
im Bus groß.
Den Abend verbringen
wir nicht weit von unserem Hotel in einem Restaurant, und es wird noch ein
anregender Geburtstagsabend. Da ich auf der Suche nach Mitreisenden für einen
Urwaldausflug in die Yungas bin, gerate ich an ein deutsches Paar, das zwar
nicht auf mein Vorhaben eingeht, sich aber wenig später an unseren Tisch setzt.
Die beiden sind zwei arg schwäbelnde Studenten aus Stuttgart, die sich vier
Monate lang durch Südamerika schlagen wollen. Sie sind ganz angetan von La Paz
und den Preisen hier und machen den Vorschlag, daß wir unsere Planung ändern
und mit ihnen einige Tage durch den bolivianischen Dschungel tingeln. Der
Vorschlag gefällt uns eigentlich recht gut, zumal die Strecke total abseits der
überbevölkerten Gringo-Route liegt. So pallavern wir munter bis zum Lokalschluß
und bringen es zusammen auf immerhin vier Flaschen leckeren Rotweins.
4.8. - Mittwoch
Als wir am späten
Vormittag einigermaßen von dem Gelage erholt in Richtung Zentrum marschieren,
sprechen mich unterwegs ein paar Franzosen an und fragen, ob wir sie nicht auf
einem Ausflug zum Chacaltaya, dem höchsten Skigebiet der Welt, unweit von La
Paz, begleiten wollten. In einer viertel Stunde schon gehe es mit zehn
französischen Landsleuten auf einem gemieteten Kleinlaster los. So unvermutet
der Vorschlag kam, so spontan ist unser Entschluß, in unsere
„Erfolgsbilanz" einen weiteren Superlativ einzureihen.
Pullover und Sonnenmittel sind schnell geholt, und wenig später kauern wir
zwischen Franzosen, einer ununterbrochen auf uns einredenden Berlinerin und
einer Indiofrau mit Kind auf der Ladefläche eines Mini-LKW. Heute ist nun doch
Streik, und zwar aller öffentlichen Transport - und Taxiunternehmen, so daß wir
uns wie Streikbrecher vorkommen, als wir die auf den Straßen angehäuften
Steinblockaden umfahren.
Schon bald nach Verlassen der Stadt wiederholt sich ein altbekanntes Spielchen:
Eine Panne verhilft uns zu einer Zwangspause, in deren Verlauf tausend
„Spezialisten“ versuchen, den Fehler herauszufinden. Wie durch ein Wunder
gelingt dies auch (wie immer), und nach etwa einer viertel Stunde geht‘s weiter
in Richtung Andengipfel.
Unser Ziel liegt in 5600m Höhe, und so muß der völlig überlastete Motor
mehrmals auf der strapaziösen Fahrt mit frischem Kühlwasser und einer Pause
versorgt werden. Als das Wasser ausgeht, behilft man sich mit Schnee vom
Wegesrand. Auf diese Weise kommen wir immer wieder zu kleinen Fußmärschen und
regem Informationsaustausch mit den Franzosen.
Endlich erreichen wir nach z.T. atemberaubender Fahrt an furchterregenden
Abgründen entlang doch noch unser Ziel. Conni und einige andere bleiben an der
augenblicklich außer Betrieb befindlichen Liftstation des „Club Andina“,
während wir anderen über Geröll und ewiges Eis den Gipfel dieses Berges
erklimmen, wobei uns ein ums andere Mal die Puste ausgeht. Könnte man sich als
Lohn für die Mühe nun auch noch ein paar Skier unterschnallen, wäre die Schau
perfekt. Aber der herrliche Ausblick auf die Anden-Riesen und sogar den in der
Ferne glänzenden Titicacasee entschädigen zur Genüge. Immerhin befinde ich mich
auf dem höchsten je von mir betretenen Punkt der Erde!
Die Idylle stört nur
ein bißchen die überkandidelte Berlinerin, die ganz schön überemanzipiert auf
die Anrede eines Franzosen mit „Fräulein" sehr unwirsch reagiert. Dabei
versicherte der Franzose, er kenne nur dieses eine deutsche Wort.
Während der Rückfahrt
nach La Paz wird's mächtig kalt hinten auf dem Laster; deshalb rücken wir alle
eng zusammen und wärmen uns gegenseitig. Unterwegs wollen ein paar Lamas am
Wegesrand unbedingt fotografiert werden. Als wir das Superpanorama der
Hauptstadt erreichen, geht gerade ein wunderbarer Vollmond auf.
Am Abend haben Conni
und ich „Lokal-Termin" mit Karl und Christine, den beiden Schwaben von
gestern Abend. Nachdem uns ein Bekannter der beiden, der seit sieben Monaten bei
Santa Cruz als Entwicklungshelfer arbeitet, einiges Interessante über das Leben
und Arbeiten mit den Campesinos erzählt hat, schmieden wir Urwaldpläne für die
nächsten Tage.
5.8. - Donnerstag
Wir haben das Gefühl,
als knistere es heute an allen Ecken und Enden von La Paz. Nachdem wir zunächst
um halb sieben früh mühsam und umständlich unser Hotelzimmer bezahlt haben
(cheque - si, cheque - no) und endlich unsere gewaschene, aber z.T.
verwechselte Wäsche in Empfang nehmen können, lassen wir vier (Karl, Christine,
Conni und ich) uns von einem Auto in einen Randbezirk von La Paz fahren. Als
Fahrer dient uns ein Polizist, den ich irrtümlich für einen Taxifahrer gehalten
und angesprochen habe. Auf diese Art verdient er sich wahrscheinlich ein
kleines Zubrot.
Ab halb acht stehen wir in der morgendlichen Kälte, den Daumen in die Höhe
gestreckt, und hoffen, mit einem Lastwagen oder Jeep in die Yungas nach Coroico
zu gelangen. Außer uns warten noch etliche andere Leute am Straßenrand auf eine
Gelegenheit, von hier wegzukommen.
Es fährt kein Bus, da ja gestreikt wird. Ein paar Autos halten an, deren Fahrer
uns eine Mitfahrmöglichkeit allerdings zu horrenden Preisen anbieten, so daß
wir nur kopfschüttelnd ablehnen. Nach einigem Stehen und Warten erkennen wir am
Ende der Straße eine Menschenansammlung, die sich offensichtlich zu einer
Straßenbarrikade formiert.
Um Genaueres herauszubekommen, nähere ich mich der Menge und sehe, wie Autos
und LKWs, die die Ausfallstraße benutzen wollen, durch Steinhaufen und
Sperrgürtel zum Umkehren gezwungen werden. Dabei ist man nicht zimperlich:
mehrmals werden Steine aufgelesen und den herannahenden Fahrzeugen entgegengeschleudert.
Wir müssen erkennen, daß wir keine Chance zum Durchkommen besitzen, und so
treten wir nach dreieinhalbstündigem Warten den Rückzug in Richtung Innenstadt
an.
An einer zweiten Straßensperre bekommen wir beinahe Ärger, als Christine ein
Foto machen will und bereits die ersten Steine fliegen. Ich werde leicht
getroffen, und schon nähern sich uns einige aufgebrachte Leute mit
unverkennbaren Drohgebärden; doch zum Glück winkt einer der Streikführer im
letzten Moment seine Kumpane zurück.
Der Grund für die
unvermutete Aggression liegt wahrscheinlich in der allgemein angespannten Lage,
die sich uns wie folgt darstellt: Die Regierung soll zum Rücktritt gezwungen
werden, indem alle wichtigen Verbindungsstraßen zu den Versorgungszentren im
Hinterland unterbrochen werden und es also so zu einer Kraftprobe zwischen
Regierung und der Bevölkerung kommt. Die Lage für die Bevölkerung muß
katastrophal sein. Astronomische Inflationsraten, schlechte Ernten, Erhöhung
der Brot- und Buspreise um das Doppelte und nun auch noch eine gefährliche
Versorgungskrise durch die Straßenblockaden.
An den Brotläden und
an Brotlastwagen stehen unendlich lange Schlangen; an den Tankstellen warten
die vielen Autofahrer vergeblich auf Benzin. Und morgen steht noch dazu der
bolivianische Unabhängigkeitstag an, der - wie man uns erzählt - die Gemüter
der Bevölkerung stets dermaßen erhitzen soll, daß es regelmäßig Krawalle und
Unruhen gebe.
Und wir, die wir La
Paz so gerne in Richtung Urwald verlassen hätten, müssen zurück in das
Pulverfaß, das jeden Augenblick explodieren kann. Vor einem Aktions-Gebäude
sind Wandmalereien, Parolen und Puppen angebracht, die die Krisensituation
verdeutlichen.
Auf der Suche nach
irgendeiner Möglichkeit, per Flugzeug, Bus oder Bahn, doch noch aus der Stadt
herauszukommen, begegnen wir einem Amerikaner, der uns rät, so schnell wie
möglich von hier zu verduften. Er habe gerade noch ein Ticket nach Santiago de
Chile erwischt. Ganz so dramatisch erscheint uns die Lage nun doch nicht, auch
wenn man es schon etwas mit der Angst zu tun bekommen kann, betrachtet man die
schwerbewaffneten Soldaten und Polizisten, die mittlerweile an jeder Ecke
stehen. Wir pilgern mit vollem Gepäck von Pontius zu Pilatus, aber es bleibt
zwecklos. So stoßen wir zwar auf keine Ausreisemöglichkeit, dafür aber auf die
aufgedrehte Berlinerin von neulich, die heute auch Grund hat, aufgedreht zu sein:
Ihr ist eben auf der Post ihr Paß geklaut worden, was ihr sicher noch einige
Lauferei bescheren wird. Es soll sogar eine Rundfunkdurchsage gemacht werden.
In einem
„Nadelstreifen-Restaurant" mit für uns immer noch äußerst günstigen
Preisen liegen wir mit unseren Bestellungen nicht sehr glücklich, da es gerade
das, was wir haben möchten, heute nicht gibt.
In den Straßen wird
man von einer wahren Menschenflut förmlich erdrückt. Die Leute, die sonst mit
öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, werden dichtgedrängt auf Militär-Lastwagen
wie zusammengetriebenes Vieh weggekarrt. Nahe dem Präsidentenpalast soll ein
Auto in Brand gesteckt und ein Polizist erschossen worden sein. Nirgendwo darf
man stehenbleiben. Sofort ist ein Polizist in der Nähe, der einen zum Weitergehen
auffordert. Der langen Schlepperei müde erreichen wir gegen Abend endlich das
Hotel, wo wir uns nochmals einquartieren und uns anschließend in unserem
Stammlokal verabreden.
Hier treffen wir auch
den Entwicklungshelfer von gestern Abend wieder, dem wir bei
Riesen-Essensportionen von unserer Pleite berichten. Wie es nun weitergehen
soll, steht vorerst in den Sternen. Als ich diese Zeilen spät am Abend
schreibe, sehe ich auf dem gegenüberliegenden Platz eine große Menschenmenge,
die dort im Freien lagert und sich an überall entzündeten Feuern wärmt.
6.8. - Freitag La Paz - Copacobana
Angesichts der
ungewissen Lage ergreifen wir die Flucht nach vorne: Nachdem ich früh um acht
als erstes einen der vor dem Hotel wartenden Franzosen gefragt habe, ob sie in
ihrem Lastwagen nach Copacobana noch Platz für zwei hätten und ich einen
negativen Bescheid erhalte, habe ich bei einer anderen Gruppe Glück. Hier sind
zwei Peruaner, die ein Sammeltaxi bestellt haben und nun nach Mitfahrern
fahnden.
Nachdem ich den
Fahrpreis von 1500 Pesos auf 1000 heruntergehandelt habe (die Unternehmen
nutzen die kritische Lage schamlos aus), muß schnell der Rucksack geholt und
den beiden liebgewonnenen Schwaben adieu gesagt werden.
Schon geht die Fahrt
in einem bequemen amerikanischen Schlitten über Schleichwege los, als sich der
erste Schreck einstellt. Obwohl die Straße in Richtung Flughafen frei ist,
biegt unser Fahrer plötzlich nach links auf die Straße nach Desaguadero ab. Wir
protestieren heftig, denn schließlich lautet unser Ziel Copacobana am
Titicacasee. Doch unser Fahrer läßt sich nicht beirren; er erklärt, daß die
Straße nach Copacobana blockiert sei und außerdem die Fähre zur Halbinsel wegen
des Streiks nicht verkehre. Was bleibt uns übrig, als uns in unser Schicksal zu
fügen und zu hoffen, daß wir doch noch irgendwie an unser Ziel gelangen. (Daß
uns der Fahrer belogen hat oder einer Fehlinformation aufgesessen ist, erfahren
wir viel später, als wir einige Franzosen wiedertreffen.)
So dürfen wir - diesmal
allerdings nur im Vorbeifahren aus unserer Luxuslimousine heraus - erneut die
Ruinen von Tiahuanaco bewundern. Nach zweieinhalb Stunden ist Desaguadero, der
bolivianisch-peruanische Grenzort erreicht. Claro, daß im Moment unserer
Ankunft die Grenze dichtmacht und uns so die Gelegenheit gegeben wird, den an
unsere Schützenfeste erinnernden Umzügen und Jubelveranstaltungen zum
Nationalfeiertag zuzusehen.
Auf dem Indiomarkt
tätigen wir noch einige Einkäufe, und an einem Stand mit Bündeln von Pesos und
Soles werden mir Peso-Scheine gewechselt.
Einer Trophäe gleich entführen wir stolz ein farbenfrohes, handgewebtes Umhängetuch,
das ich einer Indiofrau abgehandelt habe und das uns zu Hause als Tischdecke
dienen soll.
Langsam müßte
eigentlich die Grenze wieder geöffnet werden, und so versuchen wir's aufs Neue.
Beim gewohnten Warten kommen wir mit ein paar Deutschen ins Gespräch, die mit
einem VW-Bulli mit Zollkennzeichen unterwegs sind. Schnell hat sich
herausgestellt, daß es sich um zwei Lehrerfamilien handelt. Meine Intuition
läßt mich nicht im Stich, als ich weiterhin herausbekomme, daß sie in Arequipa
unterrichten, nämlich an jenem „Collegio“, das wir vor genau zehn Tagen
aufgesucht haben. Das I-Tüpfelchen auf diese kuriose Begegnung setzt allerdings
einer der beiden Männer, der sich als derjenige zu erkennen gibt, dessen
Adresse wir vom Hausmeister in Arequipa in die Hand gedrückt bekommen hatten.
Endlich können wir die
Grenze passieren, bekommen nach längerem Suchen und Fragen im nächsten Ort
einen Einreisestempel und lauschen gleich drauf erfreut den Lockrufen eines
Mannes, der mit seinem gedehnten „Yunguyoyoyoyo“ seinen leeren Lastwagen als
Transportmittel offeriert. Unser nächstes Etappenziel ist also in greifbare
Nähe gerückt, und so steigen wir ohne Zögern auf das Gefährt. Mit der Abfahrt
dauert es noch etwas, denn zuerst muß jeder Zentimeter der Ladefläche mit
Säcken, Taschen und Indios gefüllt werden. Und wir mittendrin! Für zwei Stunden
genießen wir unser „Eingebettetsein“ mit Blick auf stillende Mütter und weniger
auf den Titicacasee. Zwischendurch müssen wir genau wie unsere Mitreisenden
immer wieder die Gesichter verhüllen, da der aufgewirbelte Straßenstaub
zuweilen unerträglich wird.
Als hätten wir's bei
Neckermann gebucht, erwischen wir in Yunguyo auf Anhieb einen anderen LKW, der
uns über die Grenze wieder nach Bolivien bringen soll. Fast wäre uns dieser
allerdings an der Grenze doch noch davongefahren, da die Einheimischen keinen
Stempel brauchen und wir deshalb in einem Mordstempo dem Paßsignum
hinterherjagen.
Der Gegenverkehr auf der allzu engen Straße nach Copacobana ist enorm, alles
LKW's und PKW's voller Menschen, die von der großen Fiesta zurückströmen. Bei
dieser Fiesta in Copacobana handelt es sich um das größte Wallfahrtsfest in
Lateinamerika, das alljährlich zigtausend von Pilgern und Folkoregruppen
anzieht; letztlich auch uns, die wir ja bereits vor einer Woche diesen hübsch
gelegenen Ort auf dem Weg nach La Paz passiert haben.
Kaum zu glauben, aber
nach insgesamt zehn Stunden erreichen wir doch noch Copacobana, das auf der
normalen Strecke nur 150 km von La Paz entfernt liegt. Es ist schon
stockfinster, und so haben die Lastwagenleute leichtes Spiel, uns um ein paar
Pesos zu betuppen. Dafür finden wir auf Anhieb eine billige Absteige (3 DM das
Doppelzimmer), in der zwar sieben Betten stehen, wir aber alleine nächtigen. In
einem Restaurant können wir einige Bolivien-Neulinge mit Informationen über La
Paz und die momentanen Zustände versorgen,
7.8. - Samstag
Von der in
Reiseführern überschwenglich gepriesenen Fiesta sind wir ein bißchen
enttäuscht. An Menschenmassen in diesem ansonsten beschaulichen Ort mangelt es
zwar nicht, aber die angekündigten Attraktionen halten sich in Grenzen. Der
Strand unten am See ist vollgestellt mit Lastwagen und Bussen, deren Passagiere
hier lagern. Überall gibt es in rauhen Mengen klerikalen Kitsch, daß es einen
schaudert. Nur der große Markt auf der Plaza lohnt einen Rundgang und lädt zu
letzten Einkäufen in Bolivien ein.
Prunkstück des Ortes
ist die große Basilika, die in kolonialbarockem Stil erbaut ist und die im
Innern viel Stuck, einen monströsen Goldaltar und vor allem eine kitschig bunte
Marienfigur beherbergt, derentwegen der ganze Zauber hier veranstaltet wird.
Da können wir den nahen Felsen schon mehr abgewinnen. Entlang einem
schweißtreibenden Kreuzgang erklimmen wir mühsam einen Gipfel, der von sieben
steinernen Kreuzen gekrönt ist. So ganz scheint es den frommen Herrschaften
nicht gelungen zu sein, selbst durch eine solch massive Demonstration des
Christentums alle heidnischen Geister zu vertreiben; denn an mehreren Stellen
hocken hier oben in sich gekehrte Indios, die geheimnisvolle Süppchen brauen
und für uns unverständliche Rituale vollziehen. Wir genießen den schönen Blick
auf Copacobana und den Titicacasee und mit uns viele Pilger, die allerdings
mehr dem Alkohol als der schönen Aussicht zugetan zu sein scheinen.
Viele Menschen in
einem kleinen Ort ergeben auch viel Schmutz. Mittlerweile geht uns der
allgegenwärtige Kot- und Urinanblick und -geruch ganz schön auf die Nerven.
Aber was hilft's?
Ein bißchen entschädigend sind die zahlreichen Folkloregruppen, die überall,
selbst in Lokalen musizieren und deren Klänge wir inzwischen zwar im Schlafe
kennen, denen wir aber nicht müde werden zuzuhören.
In dem Lokal, in dem ich diese Zeilen in mein Tagebuch schreibe, sitzen uns ein
paar Italiener gegenüber, die lautstark die vorübergegangene
Fußball-Weltmeisterschaft diskutieren. Der Wirt ist äußerst unfreundlich, und
im Fernsehen läuft „Der Alte“ mit Siegfried Lowitz.
8.8. - Sonntag Copacobana - Puno
Die Hiobsbotschaften
häufen sich: Italiener erzählen uns, daß der bolivianische Präsident bereits
gestürzt sei und sich die Lage in La Paz dramatisch zuspitze. In Ayacucho/ Peru,
unserer nächsten Station nach Cuzco, ist einem Zeitungsbericht zufolge der
Ausnahmezustand verhängt worden, nachdem Terroristen eine Bombe haben hochgehen
lassen und Geschäfte, Banken und Touristenbusse ausgeraubt worden seien. Sogar
einige Touristen sollen ermordet worden sein. Schlimme Zustände!
Unser heutiger
Reisetag beginnt mit einer LKW-Fahrt, die für mich schneller endet, als mir
lieb ist: Die netten Leute aus dem Laster haben es bei allem
„Maňana“-Denken dann an der Grenze doch so eilig, daß sie trotz
inständiger Bitten nicht warten, während ich die notwendigen Stempel einhole.
Daß Conni noch hinten mit den beiden Rucksäcken auf der Ladefläche schmort,
kümmert sie herzlich wenig; und so bleibt mir nichts anderes übrig, als die
drei Kilometer bis Yunguyo zu Fuß zu laufen.
Der lange Spurt hat sich
gelohnt, da Conni und ich auf der Plaza des Ortes glücklich wiedervereint sind
und die Kosten für die LKW-Fahrt eingespart haben. Nachdem die Leute vom Laster
mich so schmählich im Stich gelassen haben, müssen sie nun in die Röhre gucken;
denn ohne Amigo keine Soles!
In Yunguyo beginnt das
große Warten auf eine Fahrgelegenheit nach Puna. Bald sind wir umringt von
"globetrottelnden" Italienern, Brasilianern, Luxemburgern, Deutschen und einem
Amerikaner, die wie wir warten bzw. auf der Suche nach einem Gefährt sind.
Leider herrscht heute
am Sonntag offensichtlich stark eingeschränkter Pendelverkehr. Dennoch haben
wir endlich um halb zwei Glück und ergattern zwei Plätze in einem für hiesige
Verhältnisse komfortablen Bus, so daß sich auch die sattsam bekannte
Marterstrecke zwischen Yunguyo und Puno diesmal gut ertragen läßt.
Weniger erträglich
sind dagegen die Rennfahrerambitionen unseres Fahrers, den ein ums andere Mal
ein rasender Teufel zu reiten scheint.
Eine unserer besten
Übungen, Hotelsuche und Ticketbeschaffung, gelingt nur z.T., da man uns auf dem
tristen Bahnhof von Puno mit den Eisenbahnkarten auf morgen früh vertröstet.
Der fast zahnlose, glitschige Schalterbeamte steigert sich bei unserem und
anderer Ticketaspiranten Klopfen jedesmal mehr in Rage, so daß sein Herzinfarkt
eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein kann. Wir lassen nicht so schnell
locker, doch leider „zieht“ der von Roland empfohlene Trick mit dem Kartenkauf
am Vorabend der Reise diesmal nicht.
Überhaupt verdichtet sich mehr und mehr der Eindruck, daß Fahrscheine in diesem
Land rein willkürlich oder nach einem uns unbekannten Ausleseprinzip vergeben
werden.
Anschließend trösten
wir uns mit einem Besuch eines sehr malerischen Indiomarktes, auf dem vor allen
Dingen Alpacasachen zuhauf feilgeboten werden. Bei einer Indiomatrone gelingt
mir sogar das Kunststück, einen in Bolivien zu klein gekauften Pullunder für
ein geringes Entgelt gegen einen größeren und besser verarbeiteten
einzutauschen.
9.8. - Montag Puno – Cuzco
Um sechs Uhr früh Schlange zu stehen ist kein reines Vergnügen, ganz besonders
wenn es draußen gefroren hat und auch mehrere Pullover übereinander kaum vor
der Kälte schützen. Unser Entschluß, daß sich einer für die erste und der
andere für die zweite Klasse anstellt, erweist sich als sehr vorteilhaft, da
ich um viertel nach sieben zwei 2.Klasse-Scheine für uns und zwei weitere für
den Amerikaner von gestriger Busfahrt und für einen Franzosen bekommen kann.
Conni hingegen steht in der 1.Klasse-Abteilung zusammen mit -zig anderen
enttäuschten Travellern auf verlorenem Posten; der Schalter wird nur ganz kurz
aufgemacht, dann heißt‘s schon „ausverkauft" - sehr unverständlich
angesichts der vielen Waggons, die wartend auf dem Gleis stehen.
Mit einstündiger Verspätung
geht es um neun Uhr los in Richtung Cuzco, dem Mekka aller Südamerikareisenden,
etwa vergleichbar mit Katmandu/Nepal für Asien-Freaks.
Doch bis dahin ist es
noch ein langer Weg, genaugenommen 393 km lang, für den die Eisenbahn
zehneinhalb Stunden benötigt. Und in diesen zehneinhalb Stunden können wir
wieder einmal eine jener unverwechselbaren Reisen miterleben, die einem in
dieser Form nur auf Eisenbahn-, Bus- oder LKW-Fahrten in Ländern der Dritten
Welt zuteil werden.
Zunächst läuft alles
sehr zivilisiert ab: Wir sitzen auf richtigen (wenn auch äußerst eng
bemessenen) Plätzen und bringen mit einiger Mühe sogar unsere Rucksäcke unter.
Guter Dinge lausche ich den Stereo-Klängen der Rolling Stones, die mir über den
Walkman des Amerikaners zu Ohren kommen. Wenn man wie mein amerikanischer
Nachbar schon über ein Dreivierteljahr unterwegs ist, kann so ein Gerät schon
mal ganz nützlich sein.
Die musikalische
Abwechslung kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es langsam eng
wird. Scheinbar jedes erdenkliche Fleckchen des Waggons wird zugestopft mit
Säcken, Paketen und nicht zuletzt Menschen, so daß man sich schließlich kaum
noch rühren kann. Bei aller Enge ist es doch lustig, hier mittendrin zu sitzen
und die Indios mit ihren weißen Zylindern auf dem Kopf in ihrem geschäftigen
Treiben zu beobachten.
Zwischendurch kommt
zum x-ten Mal der Schaffner, um zum x-ten Mal die Fahrkarten abzuknipsen und
sie zu guter Letzt einzusammeln. Alle paar Minuten robben sich
Süßigkeitenverkäufer, Frauen mit Brot, Chicha-Bier, Souvenirs oder heißem,
frisch gebratenem Hammel, den sie in Portionen zu 500 Soles anbieten, durch die
unwegsamen Gänge. Die absolute Schau bilden die Verkäufer mit Riesenstücken
rohen, noch blutenden Fleisches, das denn bei den Käufern unverpackt und
tropfend oben in der Gepäckablage landet. Genauso geht es mit frischen
Forellen, die der Reihe nach aufgespießt durch das Abteil getragen werden.
Und das alles bei 50
Kilometern in der Stunde mitten durch endlose Puna, die nach und nach abgelöst
wird von abwechslungsreicherer Vegetation wie Agaven, Kakteen und
Eukalyptuswäldern. Während der Fahrt lese ich - passend zur Landschaft in Ciro
Algrias Roman "Die hungrigen Hunde", der eben in besagter Puna spielt
und von dem kargen Leben ihrer Bewohner handelt. Zwischendurch sorgen Gespräche
mit meinem französischen Gegenüber, einem netten Jungen, der hier an einer
archäologischen Forschungsstätte seinen Zivildienst ableistet, für zusätzliche
Unterhaltung.
Um halb acht sind die
ersten Lichter von Cuzco auszumachen, und kurz darauf sitzen Conni und ich
sowie der Amerikaner und der Franzose zusammen mit ein paar anderen Gringos in
einem VW-Bulli, der uns zu einem im South American Handbook empfohlenen Hotel
bringt.
Angesichts der
unsicheren Hotelsituation in Cuzco und der Dunkelheit draußen sind wir ganz
froh, daß wir dem Aufreißer gefolgt sind und diese Nacht erst mal ein sicheres
Dach über dem Kopf haben. Außerdem ist das Hotel El Alamo ganz hübsch und
billig dazu. Auch die abseitige Lage stört uns nicht. Wir vier treten denn auch
bald in Begleitung einiger Brasilianer, die wir noch von einem früheren Treff
her kennen, einen anständigen Fußmarsch Richtung Zentrum an. Die Plaza de Armas
ist hell angeleuchtet und sprudelt vor Menschen und quirliger Geschäftigkeit
förmlich über. In einem kleinen Lokal stärken wir uns bei amerikanischen
Popklängen und betreiben kunterbunte Konversation total international.
10.8. - Dienstag
Heute nun können wir
Cuzco, die ehemalige Inca-Hauptstadt in 3500 m Höhe, auch bei Tageslicht
kennenlernen. Wir haben richtig ausgeschlafen, um ausgeruht und mit Muße die
Wirkung dieser Stadt auf uns einfließen zu lassen. Zu den markantesten Gebäuden
hier gehören die Kathedrale und die prunkvolle Jesuitenkirche „Compania",
beide an der Plaza gelegen. Wie bei den meisten Kirchen ist der koloniale Stil
unübersehbar. Bei der Frage, ob die „Compania“ wirklich die „schönste Kirche
Amerikas" ist, wie es der örtliche Prospekt weismachen will, scheiden sich
sicher die Geister.
Der erste längere
Regen auf unserer Tour hüllt die Stadt leider in tristes Grau. Mir fällt auf,
daß die meisten Autos ohne Scheibenwischer sind, so daß die Fahrer bestimmt
einige Schwierigkeiten beim Erkennen der Straße haben.
Im Hotel Bambu, das Roland uns so empfohlen hatte, dem wir aber kaum etwas
abgewinnen können, treffen wir eine in Tränen aufgelöste Deutsche, die seit
mehreren Tagen einer treulosen Freundin hinterherreist. Diese hat das arme
Mädchen mehrmals versetzt, so daß ihm jetzt nichts anderes übrig bleibt, als
Zigaretten rauchend und Tee trinkend zu warten und auf bessere Zeiten zu
hoffen. Und das bei drei Wochen Urlaub.
Für eine Weile begleitet sie uns auf unserem Erkundungsgang durch Cuzco, zieht
sich dann aber in ihr einsames Domizil zurück, da die ungewohnte Höhe ihren
Tribut fordert.
Außer dem erwarteten
Touristenstrom erinnert mich hier in Cuzco einiges an Kathmandu in Nepal, einem
Ort voller Atmosphäre, der immer neue Entdeckungen möglich macht. So gibt es
auch hier eine Art „Freak-Street“, eine schmale Straße mit urigen Lokalen und
Geschäften, in denen man Gebrauchsgegenstände z.B. zum Trecking kaufen,
verkaufen oder tauschen kann. Und Typen gibt’s reichlich, die schon bessere
Tage gesehen haben (Freaks).
Außerdem - es ist kaum
zu glauben - gibt es auch hier Kuchen und Torten, von denen man in anderen
Teilen Südamerikas oder Asiens nur träumen kann.
Doch bei aller
Kuchen-Schwärmerei will ich nicht vergessen zu erwähnen, daß wir uns in einer
überaus geschichtsträchtigen Stadt befinden, und will deshalb an dieser Stelle
einiges über die Bedeutung des untergegangenen Incareiches festhalten:
Als einigermaßen
gesichert gilt, daß Cuzco etwa um 1200 n,Chr. von dem ersten Inca-Fürsten Manco
Capac gegründet worden ist. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung reichte das
Inca-Imperium von der Mitte des jetzigen Chile bis nach Kolumbien mit Cuzco als
Mittelpunkt und Hauptstadt, was der Entfernung vom Nordkap bis Sizilien entspricht.
Aus heutiger Sicht ist das Staatsgefüge der Incas ein sozialistischer Staat
gewesen, streng kollektivistisch durchorganisiert und ohne persönliche
Freiheiten. Ähnlich unseren heute existierenden sozialistischen Staaten klappte
es auch hier nicht so ganz mit der Gleichheit der Menschen, da es eine
Führungsschicht mit vielen Privilegien, wie Befreiung von Feldarbeit und
Militärdienst oder die Möglichkeit zur Verheiratung mit mehreren Frauen gab.
Gegenüber der arbeitenden Bevölkerung war es Ihnen z.B. auch erlaubt,
prächtige Kleider und kostbaren Schmuck zu tragen. Erstaunlich aber, was in der
Medizin, der Baukunst (!), Metallverarbeitung, Textilherstellung und
Handwerkskunst alles geleistet worden ist. Und nicht zu vergessen, daß - ganz im Gegensatz zu heute
- niemand zu hungern brauchte. Doch etwas über
drei Jahrhunderte nach seiner Gründung ging es 1532 rasch mit dem Inca-Reich
zu Ende, als es zu einem Bruderkrieg und schließlich zur Landung der Spanier
unter Pizarro kam. Dieser richtete ein grausames Blutbad an, zog bald darauf in
Cuzco ein und übernahm die Herrschaft.
Nach soviel Geschichte wieder zurück zur
Gegenwart, die als nächstes eine Fahrt zu den Ruinen der alten Inca-Stadt
Macchu Pichu vorsieht. Ein glücklicher Zufall will es, daß uns eine nette
Luxemburgerin, die wir in Yunguyo kennengelernt hatten, über den Weg läuft und
uns anbietet, über ihren Schlange stehenden italienischen Freund zwei Billets
für die Bahn nach Macchu Pichu zu besorgen.
Als wir am Bahnhof ankommen, steht der arme Kerl
schon seit zwei Stunden dort und harrt wie etliche andere auf die begehrten
Scheine. Eine lange Schlange kringelt sich um den wieder mal geschlossenen
Schalter; und als dieser geöffnet wird, erschallen sofort empörte „Kola-Kola"-Rufe,
was aber nichts mit dem gleichnamigen Getränk zu tun hat sondern sich auf die
Einhaltung der Schlange bezieht. Wehe, jemand wagt es, sich vorzudrängeln!
Dank Monique, dem
luxemburgischen Sprachgenie, und ihrem Freund kommen wir viel schneller als
erwartet zu unseren Tickets für morgen früh.
Am Abend treffe ich in unserem Hotel ganz unverhofft Thierry, meinen französischen
Kumpel von gestern, wieder, der heute eigentlich schon In Lima sein wollte, Da
er keine Maschine bekommen hat, tröstet er sich mit einer der hübschen Brasilianerinnen,
die nun das Zimmer mit ihm teilt. In der Hotel-Bar trinken wir gemütlich ein
„Mate de Coca", einen leckeren Coca-Tee, und klönen noch ein
bißchen.
11.08. – Mittwoch Cuzco - Macchu Pichu
Die peruanische
Eisenbahn bekleckert sich wirklich nicht mit Ruhm: Bereits um halb sechs in der
Frühe stehen wir in einem Pulk von Menschen, die wie wir Macchu Pichu
entgegenstreben, d e r
Attraktion von Peru. Doch bevor es soweit ist, werden wir (wieder
einmal) auf eine harte Geduldsprobegestellt.
Daß der Zug nicht, wie
geplant, um sechs abfährt, ist noch kein Grund zur Aufregung. Daß aber Im Lauf
der nächsten zwei Stunden zwei sog. Touristenzüge die betuchten Jet-Set-Touristen
zur Inca-Ruine hochkarren, während wir immer noch warten, ist schon hart.
Doch schließlich, was
lange währt ... , und so geht's halt statt um sechs endlich um halb zehn
zunächst im Zickzackkurs los. 1000 m vor, 1000 m zurück, bis wir nach mehrfacher
Wiederholung dieser Prozedur mitten durch die Armenviertel von Cuzco letztendlich
hoch über der Stadt geradeaus zuckeln.
Bei km 88 ertönt nach
zweieinhalb Stunden der allseits erwartete Ausruf des Schaffners „kilometro
ochento-ocho", der einige der Mitreisenden veranlaßt, ihre Rucksäcke aus
der Gepäckablage zu holen. Hier beginnt nämlich der berühmte „Inca-Trail“,
einst die einzige Verbindung zwischen Macchu Pichu und Cuzco. Heute starten
hier „Amateur-Messner“ und ganz normale Wander-Begeisterte in
großer Zahl zu einer etwa viertägigen Klettertour mit Zelt und Schlafsack.
20 km weiter sind wir
dran. Aguas Caliente heißt der Ort für diese Nacht, der stark an ein
heruntergekommenes Nest aus einem Wildwestfilm erinnert. Ein paar
„Saloons", einige ausladende Hotels und eine Eisenbahnstation säumen die
einzige Verkehrsverbindung, die Eisenbahnlinie.
Wir sind nur etwa 1800
m hoch, was sich erfreulich auf das Klima und die Vegetation auswirkt. Richtig
munter werden unsere Lebensgeister bei der warmen Sonne und dem Anblick üppiger
Tropengewächse. Das Wildwasser des Urubamba, einem der Quellflüsse des
Amazonas, der sich hier tief in die bizarre Felsenlandschaft eingeschnitten
hat, tut sein übriges. Die vier km bis zur Macchu Pichu-Station legen wir
auf oder neben den Schienen zurück und besteigen anschließend einen der dort
haltenden Touristenbusse, die sonst all die neugierigen Menschenmassen
hinaufbefördern.
Da es Nachmittag ist
und die meisten Leute schon an die Rückfahrt nach Cuzco denken, sind wir die
einzigen Businsassen, die in rasantem Tempo die unzähligen Serpentinen aufwärts
fahren. Endlich sehen wir auf dem Bergrücken, umgeben von zerklüfteten und
stark bewaldeten Fels-Riesen, Macchu Pichu vor uns liegen, das „schönste
und rätselhafteste Zeugnis der Inca-Zeit" (Lössl).
Entstanden ist es in
der klassischen Inca-Periode um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Und
wiederentdeckt wurde es ganz zufällig von einem englischen Forscher Im Jahre
1911. Es ist immer noch ungeklärt, ob es sich um eine Sommerresidenz der Inca-Herrscher,
eine Fluchtburg oder eine Festung gegen wilde Amazonasstämme gehandelt hat.
Jedenfalls ist es schon gewaltig und imposant, was sich da in 2400 m Höhe fern
jeder größeren Ansiedlung und über allem thronend dem staunenden Betrachter
auftut.
Ehrfürchtig vor soviel Baukunst und
Formenharmonie wandeln wir durch den Tempelbezirk, das Intellektuellen-
und Handwerksviertel, vorbei am Gefängnis bis hin zum Haupttempel, der auch
zugleich den höchsten Punkt der Anlage bildet.
Aus einem Felssockel erhebt sich ein Sporn, der zu astronomischen Zwecken
gedient hat. An den Gebäuderesten fallen besonders die konisch geformten
Fenster auf sowie die Tatsache, daß hier Stein auf Stein, Nut auf Nut ganz
exakt ohne Zwischenräume aufeinandergesetzt worden sind.
Vom ehemaligen Friedhof kann man die gesamte Anlage hervorragend überblicken.
Hier bleiben wir, fast allein, in Betrachtungen versunken, in Staunen und Faszination
ob dieser genialen Meisterleistung. Um fünf Uhr worden wir aus unserer
Bewunderung regelrecht herausgepfiffen; wir müssen die Anlage verlassen. Da
kein Kleinbus mehr fährt, laufen wir den Berg mit den vielen Kehren zu Fuß
hinunter, was bei schnellem Gang eineinviertel Stunden dauert.
12.8.- Donnerstag Macchu Pichu – Cuzco
Wenn wir aus zeitlichen Gründen schon nicht in
den Genuß kommen, den gesamten Inca-Trail zu erwandern, so wollen wir
wenigstens einen „Mini-Trail" auskundschaften. Daß dieses Vorhaben
nicht ganz problemlos, dafür aber sehr reizvoll ist, erfahren wir schon eine
Stunde nach unserem Abmarsch, dem Oberlauf des Urubamba entgegen.
Wir gelangen an ein Wasserkraftwerk, das wir laut Reiseführerbeschreibung überqueren
müssen. Breitbeinig stellt sich uns ein Polizist in den Weg und erklärt, daß
die Benutzung des Kraftwerks zum Überschreiten des Flusses aus
Sicherheitsgründen verboten sei. Nun wollen wir unseren Wanderplan natürlich
nicht so ohne weiteres aufgeben, und so parlieren wir so gut es geht, bis sich
der Ordnungshüter erst einmal großspurig unsere Paßnummern aufschreibt. Dann
endlich läßt er die Katze aus dem Sack: Für einen Dollar würde er uns über eine
nahe Hängebrücke geleiten. Ein paar Soles tun es schließlich auch.
Nach diesem kurzen Bakschisch-Intermezzo sind
wir endlich drüben. Jetzt geht es eigentlich erst richtig los. Fast senkrecht
steht der Berg vor uns, den wir nun erklimmen wollen. Da braucht es schon eine
Menge Kraft und Puste, und Connis Hoffnungen, den Gipfel ohne Zusammenbruch zu
erreichen, schwinden von Meter zu Meter.
Die Kletterpartie auf einem schmalen Pfad dauert fast zwei Stunden, bis wir
endlich auf den ersehnten Inca-Pfad stoßen. An einer Quelle decken wir
uns mit frischem Trinkwasser ein und wundern uns, daß hier in diesem wilden,
einsamen Bergland ein paar Männer damit beschäftigt sind, Häuser zu bauen. Das
Baumaterial müssen sie bestimmt ganz mühsam aus dem fernen Tal hochtransportieren.
Ein Hinweisschild und kaum erkennbare Ruinen deuten darauf hin, daß wir uns nun
(zum Glück wieder waagerecht) auf dem Weg Richtung Macchu Pichu befinden.
Ganz unvermutet verlassen wir den kahlen Bergrücken und tauchen in dichtes
Dschungeldickicht ein. Schlinggewächse, Farne, Orchideen und viele andere, z.T.
ins Riesenhafte vergrößerte Pflanzen sind von nun an unsere Weggenossen. Bunte
Schmetterlinge flattern umher, und Eidechsen suchen ihr Heil in Felsritzen. Und
das alles, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Viereinhalb Stunden sind
wir nun unterwegs, als wir eine steile Steintreppe erreichen, die schnell
erklommen ist. Nicht der steile Aufstieg, sondern der Ausblick, der uns hier
überrascht, nimmt uns regelrecht den Atem: Zu unseren Füßen breitet sich in
einiger Entfernung Macchu Pichu in seiner ganzen Pracht aus. Wir sind wie von
Sinnen, und all die Mühen und Strapazen des langen Marsches sind bei diesem
Erlebnis vergessen. Auf einem kleinen Plateau lassen wir uns nieder und
genießen die Kulisse, während wir uns mit Brot und Wasser stärken.
Schon bald müssen wir
diesen Ort der Ruhe und Beschaulichkeit verlassen, schreiten noch einmal durch
das nun von johlenden Touristenhorden bevölkerte Inca-Monument, passieren
mit dem Hotel „Turistas" das zweitteuerste Hotel Perus (Doppelzimmer 140
DM) und begehen wenig später den uns wohlbekannten Schienenstrang Richtung
Aguas Caliente.
Natürlich muß gerade in
dem Moment, als ich mich in einem Tunnel befinde, ein Zug kommen. Ich mache
mich noch dünner, als ich ohnehin bin, und spüre hautnah, wie der Zug an mir
vorüberzischt,
Unsere Rucksäcke liegen
bei unseren Zimmervermietern zur Abfahrt parat, und nach kurzer Verschnaufpause
sitzen wir schon wieder im Zug zurück nach Cuzco. Ein deutscher Traveller
erzählt uns von seinem strapaziösen Inca-Trail, den er mit ein paar
wandererfahrenen Schweizern in nur zwei statt in vier Tagen bei Regen und ohne
Zelt hinter sich gebracht hat.
Die Bahnfahrt wird zur
Qual, da der vollbesetzte Zug für die 110 km fünf Stunden benötigt und wir
zusammengekauert in einem schmalen Gang sitzen. Um halb elf kommen wir müde in
unserem Hotel an.
13.8. - Freitag
An einem Freitag, dem
dreizehnten, kann nicht viel Vernünftiges herauskommen. Conni sucht weiterhin
ihren imaginären (oder echten?) Floh - diesmal können es aber auch
Mückenstiche
sein. In einem starken Augenblick betrete ich mannhaft einen Friseursalon und
lasse mir für 500 Soles (=1,75 DM) vor Connis erschreckten Augen einen
Kahlschlag verpassen, der in Windeseile vollzogen ist. Der temperamentvolle
Haarschneider ist wirklich in seinem Element, und ich frage mich, ob die nun am
Boden liegende dunkelblonde Haarpracht noch irgendeine Weiterverwendung finden
wird.
Die hiesige „Banco de la Nacion" hat sich etwas Neues einfallen lassen: So braucht man zum Eintauschen von TravellerSchecks nicht nur den Paß, sondern auch noch Fotokopien der Passseiten. Als man zunächst meine zu Hause angefertigte Kopie nicht annehmen will, da mein Gesicht zu dunkel sei, werde ich bei solch einem Schwachsinn stocksauer.
Nach einiger Lauferei
gelingt es uns, bei Aeoroperu einen Flug nach Ayacucho für nächsten Dienstag zu
buchen. Wie sehr einem der aufgeblähte und daher zeitraubende Bürokratismus
auf die Nerven gehen kann, bekommen wir erneut zu spüren, als wir mehrere Male
vergeblich uns um die teuren Einheits-Eintrittskarten für die
Sehenswürdigkeiten von Cuzco.bemühen. Mit diesem Sammelticket haben sich die
Stadtoberen etwas Feines einfallen lassen: für sage und schreibe 10 Dollar
oder 7100 Soles, hierzulande ein kleines Vermögen, kann man die Attraktionen in
und um Cuzco bewundern, von denen einige so weit weg liegen, daß man sowieso
nicht hinkommt. Und daß der Eintritt nach Macchu Pichu und in das
Archäologische Museum von Cuzco da nicht mit drin ist, riecht schon gewaltig
nach unverfrorener Abzockerei. Wir können nur froh sein, daß wir uns vor der
Reise an der Uni Siegen eingeschrieben haben. Der Besitz des internationalen
Studentenausweises spart uns (und zwei anderen Deutschen, denen wir die
ermäßigten Karten besorgen) immerhin die Hälfte des unverschämten Preises ein.
Uns bleibt noch etwas
Zeit, zwei der vielen Kirchen und das romantisch verwinkelte Altstadtviertel
von Cuzco zu besichtigen. Neben den kaum noch zählbaren Läden mit Alpaca-
und Kunstgewerbeartikeln erregen hier vor allem die massiven Fundamente
vieler Häuser unsere Aufmerksamkeit. Obwohl die Spanier in ihrer
Zerstörungswut leider viel zu viel in der alten Inca-Hauptstadt dem
Erdboden gleich gemacht haben, ist zum Glück doch einiges erhalten geblieben;
und man muß sich staunend fragen, wie man zur damaligen Zeit ohne technische
Hilfsmittel tonnenschwere Felsblöcke so exakt hat bearbeiten und
aufeinanderschichten können. Die Bauweise war so solide und stabil, daß die
Spanier auf viele der standfesten Fundamente neue Kirchen und andere Gebäude
draufgesetzt haben. Hauptattraktion dieser Baukunst ist ein zwölfeckiger
Mammutstein, der in einer schmalen Gasse zu bewundern ist . Der heutige Tag war
ganz schön teuer. Mit den Flugtickets nach Ayacucho und diversen anderen
Ausgaben sind wir ohne große Mühe insgesamt 270 DM losgeworden. Cuzco ist im
Vergleich zu anderen Städten Perus ein teures Pflaster, was sicher mit dem
blühenden Fremdenverkehr zusammenhängt. Bei einem solchen Tagessatz würde
unsere ganze Reise nur 15 Tage lang dauern bzw. wäre schon seit fünf Tagen
vorüber.
Während ich in meine
Rechenspielereien vertieft bin, kreuzen einige von einem früheren Troff her
bekannte Gesichter unseren Weg. Inzwischen überrascht es nicht mehr, daß man
alle Nase lang irgendwelche Bekannten wiedertrifft, sei es Leute aus
vergangenen Bolivien-Tagen oder Nobel-Reisende à la „Pullmann de
Luxe“.
14.8. Samstag
Heute und morgen steht
noch einmal „Inca total" auf unserem Programm, Den Anfang macht eine
Festung mit dem unaussprechlichen Namen Sacsayhuaman, die hoch oben über Cuzco
einst den am meisten gefährdeten Zugang zur Inca-Hauptstadt sichern
sollte. Rund 70 Jahre lang haben hier 30000 Indios gebaut; und es geht die
Sage, daß hier der berühmte Inca-Schatz versteckt sei.
Prospekte haben die
Eigenart, immer ein wenig zu übertreiben, so daß man die im hiesigen
Informationsblatt gedruckte Bezeichnung als „eines der Weltwunder"
gelassen hinnehmen muß. Immerhin ist es schon toll, was hier vor Jahrhunderten
mit primitivsten Mitteln geschaffen worden ist. Ungeklärt ist noch wie vor, wie
man Felsblöcke von bis zu 350 Tonnen hat transportieren können, Nebenan breitet
eine Jesus-Statue segnend ihre Arme über die Stadt aus, die man von hier
oben in voller Größe überblicken kann. Nr.2 auf unserem heutigen Inca-Trip
ist Kanko, einen knappen Kilometer weiter. Hierbei handelt es sich
wahrscheinlich
um einen Kult- und Festplatz mit vielen Spalten und unterirdischen
Gängen, durch die man hindurchklettern kann. Während Conni draußen auf der
Wiese ein Nickerchen hält, pirsche ich mich zur Haupthöhle vor, in die Sitze
und steinerne Altäre geschlagen sind. Man vermutet, daß hier bei Ahnenfeiern
Mumien eingelassen worden sind.
Nach soviel Kultischem
packt uns der Ehrgeiz, und wir wollen nun auch die sechs Kilometer entfernten
beiden nächsten Festungen noch erwandern. Wir vertrauen auf unseren
Orientierungssinn
und laufen querbeet bergauf, bergab, fern der Autostraße. Herrlich diese Stille
und Einsamkeit; nur dann und wann begegnen wir einer Schaf- oder
Lamaherde. Geheimnisvoll aussehende Höhlen könnten als Inca-Grabstätten
gedient haben. Conni plagen während unseres langen Marsches die ersten
Befürchtungen,
wir müßten diese Nacht einsam in der Wildnis verbringen, als in der Ferne die
Straße und ein Dorf auftauchen.
Laute Radiomusik klingt
uns auf den letzten Metern bis zum Dorf entgegen. Die primitive Ortschaft
besteht aus einigen wenigen Lehmbauten mit Strohdächern und einem Brunnen, aus
dem Frauen und Kinder in großen Gefäßen Wasser schöpfen. Alles wirkt so, als
hätte außer uns kaum je ein Fremder seinen Fuß hierhergesetzt. Noch bevor ich
diesen Gedanken zu Ende gesponnen habe, holpert ein kleiner Touristenbus,
vollbesetzt mit Franzosen heran. Die Businsassen schwärmen sogleich aus, um die
„unberührte Idylle“ im Bild festzuhalten. Letztendlich profitieren auch wir von
der fotogenen „Unberührtheit“ dieses Ortes, da wir auf diese Weise zu einem
fahrbaren Untersatz wieder zurück nach Cuzco kommen. Die gesuchten Ruinen
liegen eh ganz woanders; und außerdem können wir sogar mit den Franzosen
zusammen noch an einem sehr schönen Foto‑Stop oberhalb von Sacsayhuaman
teilnehmen.
Für den Abend habe ich
Eintrittskarten zu einer Folkloreveranstaltung im örtlichen Colosseum besorgt.
Die häßlich kahle und zudem eiskalte Halle als Colosseum auszugeben, ist schon
vermessen. Aber schließlich haben wir Samstag Abend, und da sind wir für eine
musikalische Abwechslung sehr dankbar. Angekündigt ist „la familia
Rodriguez", die ganz unfamiliär erst mal fast eine Stunde auf sich warten läßt,
Gut, daß wir vorher eine kleine Flasche Rum gekauft haben!
Endlich geht mit
erheblichen Schwierigkeiten der Vorhang auf, und eine propere Großfamilie
betritt unter großem Applaus das Parkett. Die Eltern und ihre acht Kinder
stehen lächelnd in Reih und Glied, alle in rote Panchos gehüllt, und beginnen
zu trällern. Die Trapp-Familie aus den fünfziger Jahren läßt grüßen.
Immerhin wird nun tatsächlich südamerikanische Folklore aus verschiedenen
Teilen das Kontinents gespielt, die sich sogar recht gut hören läßt. So richtig
zur Gaudi wird die Sache aber erst, als die füllige Mama ihren Sopran ins
Mikrofon ergießt, daß es einem durch Mark und Bein geht. Und gerade diese
Stücke, die mehr an chinesische Oper als an lateinamerikanische Folklore
erinnern, lösen beim Publikum frenetische Beifallsstürme aus. Auch wir
klatschen emsig, denn es ist lausig kalt.
15.8. - Sonntag Cuzco - Pisac -
Cuzco
Ganz früh schon machen wir uns auf, um einen Bus zum 30 km
entfernt liegenden Ort Pisac zu erwischen. Am Dreh- und Angelpunkt von
Cuzco, der Plaza de Armas, fährt uns einer gerade vor der Nase weg. Doch dafür
treffen wir die luxemburgische Monique mit Francesco, ihrem italienischen
Freund, mit denen wir ein Taxi für die Fahrt anheuern.
Pisac
Im Urubambatal (siehe Macchu Pichu) ist bald erreicht und damit auch der
berühmte Sonntagsmarkt, zu dem allwöchentlich die Jet-Set-Touristen aus
Cuzco in Scharen pilgern sollen. Nachdem es zunächst ganz friedlich und ohne
große Hektik zugegangen ist, läuft nun wirklich hier eine Kommerzshow ab, die
einen das Gruseln lehren kann. Teppiche, Decken, Pullover, Kalebassen (aus
Kürbis), Keramiken und dergleichen mehr wechseln zu horrenden Preisen die
ungleichen Besitzer. Immerhin, fürs Auge und die Kamera gibt es einiges her.
Besonders reizvoll sind die Trachten der Einheimischen, genauer
deren Kopfbedeckungen, die anders als in Cuzco, wo die Frauen weiße Zylinder
tragen, hier eher an Obstschüsseln oder in Stoff gehüllte Frisbee-Scheiben
erinnern. Im Anschluß an eine Messe in der armseligen Kirche warten alle
(Kamera-) Augen gespannt auf den Umzug der Dorfältesten und Bürgermeister
auch aus den Nachbargemeinden, die dann auch wirklich in ihren bunten Trachten
mit reich verzierten Zeptern würdevoll eine Runde auf dem Marktplatz drehen. Entsprechend
der besonderen Marienverehrung in Lateinamerika wird dazu eine überlebensgroße
Marienfigur von sechs kräftigen Burschen über den Platz getragen.
Außer diesem Spektakel hat Pisac auch noch Zeugnisse der Inca-Zeit
in Hülle und Fülle zu bieten.
Dazu heißt es zum Leidwesen Connis zunächst wieder Klettern, denn die meisten
Anlagen befinden sich wie Sacsayhuaman oder Macchu Pichu auf Bergrücken, von
denen man sich den besten Schutz vor Übergriffen versprach.
Nach etwa einer Stunde befinden wir uns hoch über dem Ort, der von hier wie ein
Spielzeugdorf voller geschäftiger Zwerge aussieht. Wir erreichen die erste
Ruine. Interessanter für uns, die wir nun schon soviel aus dieser Epoche
gesehen haben, ist eine sagenhafte Terrassenanlage, die sich völlig gleichmäßig
und symmetrisch den Hang hinaufzieht. Wie schade, daß sie heute nur noch als
Touristenattraktion dient.
Immer wieder tauchen bei unserer Erkundungstour neue Ruinen auf,
die uns mitunter als Schutz vor den plötzlichen Regenschauern sehr willkommen
sind. Wahrscheinlich hat sich hier eine der wichtigsten Städte der Incas nach
Cuzco von mehreren Quadratkilometern Ausmaß befunden.
Wir nähern uns einer Straße, auf der die gehfaulen Touristen
heraufgekarrt werden, so daß wir bei wieder erschienener Sonne den Rückzug
antreten.
Pisac wirkt mittlerweile wie ausgestorben, und wir sehen zu, daß
wir ein Gefährt Richtung Cuzco erwischen. Als ein Kleinlaster hält, stürzen
sich gleich Dutzende von Wartenden auf die Ladefläche. Auch ich bin nach einem
kühnen Satz drauf, doch Conni hat Probleme beim Aufsteigen. Erst tritt ihr
jemand auf die Finger, beim zweiten Anlauf schmeißt sie ein anderer ohne
Skrupel von der Rampe, und schon ist der Karren voll. Wenn es ums Mitfahren
geht, kennen die Peruaner kein Pardon. Der nächste Laster läßt nur eine viertel
Stunde auf sich warten, und diesmal klappt es. Eingezwängt zwischen Menschen
und Säcken legen wir die 30 km nach Cuzco in bewährter Manier zurück; und siehe
da, wir überholen den Kleinlaster von vorhin, der wegen irgendeines Schadens
liegengeblieben ist.
Ein Pollo (Hähnchen), Apfelkuchen, ein Pisco Sour und natürlich
ein Coca-Tee füllen zum Abschluß des Tages unsere leeren Mägen.
16.8. Montag
Unser preiswertes und relativ komfortables Hostal „El Alamo"
(eigene Dusche!) bietet ganz schön viel fürs Geld. Im Preis eingeschlossen ist
auch, daß früh um sechs öfter mal das Telefon im Zimmer dauerläutet, jemand
hartnäckig an die Tür klopft oder plötzlich das Wasser unter der Dusche
ausbleibt. Letzteres kann, wie heute morgen geschehen, bei eingeschäumtem Kopf
doch recht problematisch sein.
Eigentlich wollten wir heute die noch ausstehenden Museen und
Kirchen „abhaken“, doch „zwingende Gründe" lassen uns dieses Vorhaben nur
z.T. realisieren.
Zunächst muß ein Alpaca-Pullover für Conni gefunden werden, was bei der
Riesenauswahl nicht einfach ist. Bei manchen Verkäufern auf dem großen Indio-Markt,
den wir alltäglich bei unserem Marsch ins Stadtzentrum passieren, erscheinen
uns die Preisvorstellungen zuweilen leicht größenwahnsinnig. Aber am 100. (?)
Stand ist es dennoch geschafft und der passende Pullover gefunden.
Nach einer leckeren Pizza wollen wir nur eben ins Büro der VIASA, unserer
venezolanischen Fluggesellschaft, um unseren Rückflug nach Amsterdam für
Freitag nächster Woche rückbestätigen zu lassen. Aus dem „eben" werden
zwei Stunden, da man in Bonn einen Fehler beim Ausstellen meines Tickets
gemacht hat. So lautet die eingetragene Rückflugroute nicht Lima - Caracas -
Amsterdam, sondern Lima - Caracas – Lima!
Es bleibt zu
hoffen, daß der Fehler in Lima vor unserem Abflug behoben werden kann.
Als
wir das Reisebüro verlassen, ist es schon fünf, und so hecheln wir zum
Regionalen Museum: geschlossen! Weiter zum Archäologischen Museum, wo uns eine
halbe Stunde bleibt, um Inca-Figuren und -Töpferwaren, Handarbeiten
aus der Nazca-Kultur sowie aufs Neue Mumien in allen erdenklichen Posen zu
bewundern.
Zu weiteren Kirchenbesuchen sind wir nun also nicht mehr gekommen; aber da der
Kolonialstil alle Gebäude so ähnlich macht, sind wir auch nicht sonderlich
traurig. Unser Cuzco-Aufenthalt geht seinem Ende entgegen, und so ist
heute Abend zum letzten Mal Shopping-Zeit.
Da das Feilschen beim Einkaufen hier dazugehört
wie das Salz in der Suppe, erreichen meine Handelskünste langsam wieder Asien-Format.
Nur eine sture Seňora macht es mir ein
bißchen schwer, als wir einen gewebten Wandteppich mit Indiomotiv entdecken,
der uns sehr gut gefällt und den wir nach zähem Ringen und gegenseitigem
Austricksen dann doch noch etwas billiger bekommen.
Des weiteres erstehe ich (noch) einen Pullover, diesmal zum Sonderangebots-Festpreis
von umgerechnet 10,50 DM. Da wiegt auch der Verlust eines Handschuhpaares nicht
so schwer, das ich im Eifer des Gefechts irgendwo liegengelassen habe.
Auf dem Rückweg zum Hotel muß ich feststellen, daß es einfacher
ist, etwas zu erwerben als etwas loszuwerden. Etwas zögernd gehe ich am Bahnhof
„San Pedro“ auf eine junge Frau zu, die wie viele ihrer Leidensgenossen hier im
Freien die kalten Nächte verbringt, und biete ihr meinen alten Sweat-Pullover
als Geschenk an. Äußerst ungläubig und verunsichert nimmt sie diesen entgegen
und beteuert fortwährend, kein Geld zu besitzen und nichts bezahlen zu können.
Sogleich eilen neugierige Indios herbei, die sich über diesen Vorgang genau wie
die junge Frau wundern. Wir stehlen uns heimlich davon.
Vielleicht habe ich mit meinem „guten Werk" wenigstens der
Frau ein ganz klein bißchen geholfen und zugleich in meinem Rucksack etwas
Platz gewonnen. Zur Information sei noch angefügt, daß bis zu 80% der Menschen
in diesem Land keine oder zumindest keine feste Arbeit haben und daß die
wahnsinnige Inflationsrate die Kluft zwischen Arm und Reich immer noch
vergrößert.
Beim anschließenden Tagebuchschreiben
erleben wir seit nunmehr einer Woche in der Snack Bar des Hotels dieselbe
Szenenabfolge, die uns sehr belustigt: Als einzige Gäste sitzen wir bei Tee,
Kaffee oder (gutem) Bier und schreiben; der Cassettenrecorder spielt wie immer
dasselbe Band ab, obwohl die Geräuschkulisse aus der benachbarten Diskothek
voll ausreichen würde, und der sehr bedächtig arbeitende Snack-Bar-Angestellte
bedient uns im Zeitlupentempo, während er sich nach unserem Tagesablauf und
unseren Vorhaben für den nächsten Tag erkundigt. Fast schon eine Zeremonie!
Wieder einmal hat es In
Cuzco geregnet, und so präsentiert sich die Stadt bei unserem Abschied grau in
Grau. Die triste Stimmung bestärkt uns in unserem
Drang, wieder etwas Neues kennenzulernen und die Reise fortzusetzen.
Der Beginn dieser Fortsetzung verzögert sich beinahe schon erwartungsgemäß um
zweieinhalb Stunden. So lange müssen wir auf den Abflug nach Ayacucho warten.
Als es endlich gegen Mittag so weit ist, macht sich der Unmut einiger Leute aus
der Schlange durch solche Drängelei Luft, daß es fast zu einer Prügelei kommt.
Wir ergattern einen Fensterplatz, doch leider reißt das Wolkenmeer nur
vereinzelt auf und läßt einige wenige Blicke auf die Andenkette zu. Bereits
nach einer halben Stunde landen wir in Ayacucho; mit dem Bus hätte es 30
Stunden gedauertl
In Ayacucho Stadtmitte
angelangt, hasten wir vorbei an der
schönen Plaza zum nächsten Busbüro, wo wir eine rasche Entscheidung treffen
müssen: Da der Fünf-Uhr-Bus nach Huancayo schon ausgebucht ist,
stellt sich für uns die Frage, ob wir hier über Nacht bleiben, oder ob wir
gleich mit dem Zwei-Uhr-Bus weiterfahren. Es ist genau zwei. Die Zeit
bis zum Ende der Reise läuft uns nun etwas davon, und nicht zuletzt die
Nachrichten von ständigen GuerillaÜberfällen mit Toten und Verletzten sowie
die Warnungen von Reisenden, die wir in Cuzco getroffen haben, vor Angriffen
auf Touristen erleichtern uns die Entscheidung.
Kurzentschlossen springen wir in den zur Abfahrt bereitstehenden „Luxus"-Bus.
20 Stunden soll unsere Fahrt bis La Oroya dauern - offiziell! Es erübrigt
sich fast schon zu erwähnen, daß offizielle Angaben hier nur selten etwas mit
der Wirklichkeit zu tun haben.
Was uns aber nun blüht, bringt unsere Stimmung und unseren
Zeitplan doch etwas ins Wanken. Von Regen schrieb ich ja schon zu Anfang dieses
Tagesberichts; daß uns allerdings der für diese Jahreszeit untypische Dauerregen
ab Ayacucho einen gewaltigen Strich durch unsere Zeitrechnung machen würde,
hätten wir nicht gedacht. Denn wer rechnet schon damit, daß die ganze Fahrt auf
ungeteerter Erdpiste rauf und runter mitten durch die Anden führt, was bei
plötzlich auftretender Nässe mit erheblichen Problemen verbunden sein kann.
In einer ansteigenden Kurve wären wir fast stehengeblieben; doch mit vereinten
Kräften meistern Fahrer und Helfer die rutschige Lage. Dann, oh weh, folgt
wenige Kilometer weiter der totale Kollaps. Mitten auf der schmalen Fahrbahn
steht in dickem Morast ein Bus, der anscheinend nicht weiterkommt. Es ist
dunkel, völlig einsam und kaum etwas zu erkennen. Eine ganze Weile warten wir
noch hoffnungsvoll. Immer wieder wird der Motor gestartet, Lichtsignale
gegeben. Es heißt, der Motor des anderen Busses sei heißgelaufen. Ein LKW von
oben und noch einer von unten gesellen sich zu uns und machen das Chaos
perfekt. Da der Fahrer keinerlei Anstalten macht, die Fahrt irgendwie
fortzusetzen, im Gegenteil sich vergnügt schlafen legt, fühlen wir uns ganz
schön verschaukelt. Auch die apathischen Indios holen ohne Murren ihre Decken
hervor, und bald macht sich ein lautes Schnarchen breit.
Um die Situation zu erhellen, will ich meine Taschenlampe holen,
steige aufs Dach des Busses und muß zu allem Überfluß feststellen, daß trotz
Abdeckplane im Rucksack alles triefend naß ist.
Die Stimmungskurve fällt rapide, zumal die Besatzung gar nicht gewillt ist, uns
und drei anderen Deutschen zu erklären, warum es erst „maňana“ weitergehen soll; das einzige, was sie vor sich hinmurmeln, ist
ein schnippisches „gringo, gringo". Wenig stimmungsfördernd ist auch die
lausige Kälte, das ununterbrochene Blöken eines kleinen Schafes, das direkt
neben meinem Platz angebunden ist, der elende Hunger (wir haben heute außer
zwei Spiegeleiern noch nichts gegessen) oder die 1000 Gerüche, die durch den
Gang strömen.
Trotz Ohropax ist an Schlaf nicht zu denken. Vor Kälte zitternd kuscheln uns
Conni und ich aneinander und warten sehnsüchtig wie nie zuvor auf das
Morgengrauen. Die ersten Lichtfetzen dringen durch das dunkle Wolkenband, und
schon ist Leben im Bus.
Es dauert auch gar nicht lange, bis der Vorderbus flott gemacht
ist und wir endlich unsere Fahrt fortsetzen können. Die Sonne blinzelt zwischen
den Wolken hervor und läßt eine reizvoll bizarre Bergwelt um uns herum erröten.
Wir denken schon, daß bei der schlechten Straße, die an steilen Abgründen
vorbeiführt, unser Zwangsaufenthalt vielleicht gar nicht so verkehrt gewesen
ist.
Doch ein Unglück kommt bekanntlich selten allein: Das nächste
liegt wortwörtlich auf der Straße, von einer Menschenmenge umringt. Ein sicher
überladener LKW ist in einer Kurve knapp vor dem Abgrund umgestürzt und
blockiert mit seinen kunterbunten Waren die Straße. Eifrige Helfer sind mit dem
Umladen von Gasflaschen, Schuhen, Batterien, Fahrrädern und Schokolade sicher
noch einige Zeit beschäftigt, was uns Zeit zum Bewegen, Fotografieren und vor
allem nach einem gewagten Wendemanöver zum Frühstücken in einem nahen Lokal
gibt.
Andere, viel
später abgefahrene Busse mit einigen Rucksack-Bekannten treffen ein, und die
kostbare Zeit verrinnt. Ungewollt werden wir zu Zechprellern, als unser Bus
ganz plötzlich losfährt und wir gerade noch reinspringen können. Der
umgestürzte Laster blockiert immer noch die Straße, so daß es unser Fahrer nun
wagt, das Unglücksauto zu umfahren. Um ein Haar wär’s ins Auge gegangen, da der
Bus beinahe in einen Bach abgesackt wäre. Aber es gelingt schließlich doch.
Zwölf Uhr
Mittag, und wir hoffen, wenigstens Huancayo heute noch zu erreichen. Der Ärger
und die Müdigkeit sind schnell vergessen bei dem Super-Panorama, das uns
nun ständig begleitet. In die steil abfallenden Schluchten und Täler sieht man
besser nicht hinunter, dafür verdienen die so formenreich gefalteten Berge das
Prädikat „grandios“. Auch die Vegetation wechselt je noch Höhenstufe ganz
erstaunlich. Aber Huancayo, unser nun angepeiltes Etappenziel, ist noch fern.
Ein zerfledderter Reifen muß gewechselt werden. Und als bei hereinbrechender
Dunkelheit auch noch ein Schneesturm gegen die Windschutzscheibe prasselt,
fürchten wir schon wieder um das Durchhaltevermögen des Fahrers.
Diesmal aber hält er stand, und nach sage und schreibe 30 Stunden
erreichen wir durchgeschüttelt, halbtaub vom Motorenlärm und hundemüde
Huancayo, eine 150 000 Einwohner-Stadt in 3200 m Höhe. In Gedanken stelle
ich die 600 km, die wir gestern in einer halben Stunde per Flugzeug überwunden
haben, den 300 km von Ayacucho nach Huancaya gegenüber, für die wir nun 30
Stunden gebraucht haben ...
19.8. - Donnerstag
Huancayo - Lima
Auf der Suche nach dem Schönsten, Größten, Besten können wir heute
einen neuen Superlativ vermelden: die Fahrt mit der höchsten Eisenbahn der
Welt, die je nach Ausgangspunkt von Huancayo nach Lima führt. Wegen der
Buspleite der vergangenen zwei Tage haben wir unsere Pucallpa-Pläne ad
acta gelegt und eine gänzliche Kurskorrektur vorgenommen.
Da wir insgesamt sparsam gewirtschaftet haben, ist noch genug
Geld in der Kasse, um einen echten Urwaldabstecher nach Iquitos am Amazonas in
unser Programm aufzunehmen. Wer weiß, ob wir bei einer Busfahrt in das
Dschungeltiefland von Pucallpa nicht ein ähnliches Dilemma erleben würden wie
gestern. So würden wir von Lima aus mit dem Flugzeug zum fernen Amazonas düsen.
Aber heute
geht es erst einmal mit der Bahn weiter. Früh um halb sieben besteigen wir
diesmal ganz ohne Hektik und fast schon mitteleuropäisch gelassen den Zug nach
Lima. Und es darf gestaunt werden: Quarzuhrgenau um Punkt sieben verläßt dieser
den Bahnhof von Huancayo. Die 300 km lange Fahrt ist einmal wegen Passierens
des höchsten Punktes in 4781 m Höhe und zum anderen wegen Durchfahrens
sämtlicher Höhenstufen bzw. Vegetationszonen innerhalb von „sierra“ (Bergland)
und „costa“ sehr reizvoll. Und das innerhalb einer kurzen Strecke, so daß jedem
Geographen das Herz höher schlagen muß.
Interessant ist vor allem der Übergang vom schneebedeckten
Hochgebirge zur Puna bis hinab zur Yunga, dem Gebiet mit subtropischer
Vegetation.
Zwischendurch können wir die einfallslos gebauten Bergbausiedlungen
um La Droya herum begutachten. Hier befinden sich die großen Kupfer-,
Blei- und auch Silbervorkommen, deren Ausbeutung (häufig durch ausländische
Firmen) in einer langen Leidensgeschichte hier wie auch in Bolivien unzählige
Indioleben gekostet hat.
Genau beobachten kann man wenig später das Eintauchen in die durch
den Humboldstrom bedingte Dunstglocke, die das Leben in Lima zu dieser Jahreszeit
so unangenehm macht. Die peruanische Hauptstadt ist bald erreicht, und somit
wäre die Peru-Bolivien-Rundreise eigentlich vervollständigt. Aber
wir haben ja noch einiges vor.
Die Wärme in Lima tut
uns nach soviel Hochgebirgsluft gut. Mit unseren Flugplänen haben wir Glück,
denn wir bekommen auf Anhieb zwei Plätze bei Aeroperu nach Iquitos für morgen
Mittag. Weniger glücklich verläuft unsere Hotelsuche, da bis auf die Absteige
„Pacifica“ alle Billig-Hotels voll sind. Trotz spartanischer Verhältnisse
und eines relativ hohen Preises nisten wir uns hier ein.
Ein totaler
Stromausfall in der ganzen Stadt bringt noch einmal Abwechslung und sorgt um
uns herum für mächtige Aufregung. Wir sitzen gerade in einem Lokal und
amüsieren uns über die Ober, die sich mit Kerzen unverzüglich am Eingang
postieren, damit niemand ohne zu bezahlen verschwindet. In Windeseile haben
alle Händler ihre Läden fest verrammelt, und über die Stadt und die
vorbeiziehenden Menschenmassen verbreitet sich bei totaler Dunkelheit eine sinistre,
unwirkliche Untergangsstimmung. In der Ferne ist Sirenengeheul zu vernehmen,
Polizeilampen blitzen durch die Nacht. 30 Minuten lang dauert der Spuk, in
denen uns unsere Taschenlampe gute Dienste leistet. Vorsicht vor Dieben ist
geboten. Als die Lichter wieder angehen, geht ein großes „Hallo!“ durch die
Straßen. Uns fällt auf, daß gegenüber unserem letzten Aufenthalt hier vor über
vier Wochen viel mehr Polizei und Militär mit MP’s in der Stadt patroulliert.
Und die heftig gestikulierenden Verkehrspolizisten blasen auf ihren
Trillerpfeifen noch hektischer als sonst. Wenn unsere Informationen stimmen,
hat inzwischen ein fehlgeschlagenes Attentat auf den Präsidenten
stattgefunden, und ein Supermarkt ist in die Luft geflogen. Also nicht nur in
La Paz herrscht Krisenstimmung.
20.8. – Freitag Lima - Iquitos
Die Schlagzeilen sämtlicher Zeitungen werden von Meldungen über
den gestrigen Stromausfall beherrscht. Gar nicht weit von da, wo wir uns
befunden haben, ist eine Bombe hochgegangen und hat die Stromversorgung
lahmgelegt. Massenweise Plünderungen sollen die Folge gewesen sein.
VIASA, unsere Linie für den Rückflug nach Amsterdam, macht es noch
einmal spannend wegen der Falsch Eintragung in mein Ticket. Man
vertröstet mich auf nächste Woche.
Das alles soll uns heute aber nicht mehr weiter kümmern, denn wir
jetten nach ausgiebigem Aufenthalt in „costa“ und „sierra" nun in die
„selva“, den peruanischen Amazonas-Dschungel. Iquitos heißt unser Ziel, das
mit so blumigen Attributen wie „Perle des Amazonas" oder „Schmetterling
mit Regenbogenflügeln über einer großen silbernen Schlange" (Goldstadt)
versehen ist.
Mit der silbernen Schlange ist natürlich der wasserreichste Fluß
der Erde, der Amazonas, gemeint. Immer
wenn ich im Erdkundeunterricht zu Hause meinen Schülern etwas über diesen
gewaltigen Fluß, über das größte tropische Waldgebiet mit seinen Edelhölzern,
den zweifelhaften Bau der Transamazonica, der Betonpiste durch den Dschungel,
beizubringen versuchte, habe ich mir gewünscht, dies alles einmal in natura zu
erleben.
Und
nun bin ich nach nur eineinhalbstündigem Flug hier und genieße nach
vierjähriger Tropenabstinenz die für viele so unerträgliche Treibhausluft. Nach
der Kühle und Kälte der vergangenen Wochen erscheint mir die feuchte Schwüle wie ein warmer Segen. Am Flughafen warten
bereits die obligatorischen Aufreißer (Hotel, Taxi, Seňor?), mit denen wir
nicht viel im Sinn haben.
Beim Warten auf unser
Gepäck kommen wir jedoch mit einem recht gut Deutsch sprechenden Peruaner ins
Gespräch, der relativ schnell unsere Skepsis ausräumt und unser Vertrauen
gewinnt. Er macht keinen Hehl daraus, daß er uns eine Dschungeltour vermitteln
will - und schließlich ist es ja das, was wir suchen. Wir verlassen uns
auf unser Gefühl und die überzeugend klingenden Lobreden anderer Traveller in
einem dicken Buch, das uns Jaime, so sein Name, vorlegt. Außerdem wird er sogar
im South American Handbook als hilfreicher Vermittler und Berater empfohlen.
Voller Zuversicht steigen wir in seinen Jeep, mit dem wir bald die Stadt
erreichen. Die erste gute Tat von Jaime ist die Empfehlung und das gemeinsame
Aufsuchen eines Hotels, das in Ordnung und für hiesige Verhältnisse wohl noch
recht günstig im Preis ist. Dann begeben wir uns in ein Lokal, wo wir zunächst
das „Geschäftliche" abwickeln. Wir werfen allen guten Sparwillen über
Bord und lassen uns zu einer Drei-Tage-Tour in den Dschungel mit
allen Rafinessen verführen. Preislich liegen sämtliche Veranstalter auf
demselben Level, so daß wir wiederum auf Jaimes guten Riecher bauen. Erfreulicherweise erzielt er bei der
ausgewählten Organisation sogar einen Preisnachlaß. Immerhin werden wir auf
diese Weise trotzdem noch insgesamt 210 Dollar los.
Sonderlich
behagt es uns nicht, uns einer organisierten Sache anzuschließen, aber hier
gibt es offenbar keine Alternative, Daß das Preisniveau von Iquitos gegenüber
anderen peruanischer Städten zudem sehr hoch ist, bekommen wir bald erneut zu
spüren. In einem Lokal oberhalb des Amazonas lassen wir die Speisekarte
angesichts der Preise erschrocken zurückgehen und bestellen nur einen Kaffee
und ein kleines Bier. Die Rechnung hinterher verdirbt uns förmlich den an sich
großen Appetit, denn jedes Getränk kostet 900 Soles = 3.20 DM!
Nicht zu Unrecht schreibt das
Handbook „Iquitos is the most expensive town in Peru“. Zurück zu unserem Freund
Jaime, der Deutsch übrigens am Humboldtkolleg in Lima gelernt hat. Wie
verabredet treffen wir uns in einem Straßenlokal wieder, wo wir bei einer Cola
nicht nur das knallrote Abendrot bewundern, sondern uns auch sehr angeregt über
den Film „Fitzcaraldo“ von Werner Herzog unterhalten, der zu einem großen Teil
hier gedreht wurde. Zweimal habe ich mir den Film vor unserer Reise mit großer
Begeisterung im Kino angesehen; und nun treffe ich jemand, der nicht nur die
Dreharbeiten und das ganze Drum und Dran miterlebt hat, sondern der selbst
sogar in drei Szenen mitgespielt hat. Gefesselt folgen wir den Ausführungen
über den Machtkampf der beiden „Verrückten" Werner Herzog und seinem
Hauptdarsteller Klaus Kinski, über die „alte" Claudia Cardinale und den
Riesenwirbel, der hier veranstaltet wurde. Mick Jagger, der Kopf der Rolling
Stones, sollte eigentlich auch mitspielen, hat sich dann aber doch noch
rechtzeitig „abgeseilt“. Immerhin hat er sich noch in Jaimes Vorzeigebuch
eingetragen. Insgesamt haben die Dreharbeiten zu dem Film über ein Jahr
gedauert, eine Zeit, die sich im Hinblick auf die Qualität des Films sicher
gelohnt hat.
Kurz der
Inhalt: Fitzcaraldo, ein erfolgloser, verlachter und etwas verrückter
Geschäftsmann will groß ins Kautschukgeschäft zu Beginn dieses Jahrhunderts
einsteigen. Er hat einen tollkühnen Plan: Um die Kautschukwälder an einer
unzugänglichen
Stelle nutzen zu können, will er vom Ucayali aus, einem Zufluß des Amazonas,
eine Verbindung zu einem anderen Fluß schaffen, indem er mitten im
Indianergebiet sein Schiff über einen trennenden Berg befördern lassen will.
Das Vorhaben erscheint wahnwitzig, aber mit ungeheurer Energie, genialem
Einfallsreichtum und nicht zuletzt der Musik Carusos, die Fitzcaraldo in den
Augen der Indianer zu einem Halbgott macht, gelingt es. Mit dem Geld, das sich
der Geschäftsmann von seinem Projekt erhofft, will er in Iquitos nach dem
Vorbild
von Manaus in Brasilien eine Oper bauen lassen. Nach dramatischem Ablauf der
Aktion scheitert er letzten Endes, weil er die Gedanken und Absichten der
Indianer nicht ins
Kalkül gezogen hat, Aber was besagen viele Worte - ich glaube, ich werde
mir den Film ein drittes Mal ansehen.
21.8. – Samstag Iquitos - Tamshiyacu Lodge
Eine „unvergeßliche, schöne
Erfahrung" nennt unser Prospekt die Fahrt in den Dschungel, die wir heute
morgen mit Umhängetasche und Plastiktüte antreten. Lassen wir uns überraschen,
was die Tamshiyacu Lodge an „Erfahrungen“ für uns parat hält.
Mit neun anderen Fahrgästen starten
wir in einem schnellen palmblätterüberdachten Motorboot das etwa zweieinhalb
Stunden lang durch braune Amazonas Brühe fährt, Der riesige Fluß ist so
verzweigt, daß es zwischendurch schwerfällt zu erkennen, ob man sich auf dem
Amazonas oder einem seiner vielen Neben- oder Zuflüsse befindet.
Gelegentlich begegnen uns längliche Boote mit Außenbordmotoren, die anzeigen,
daß der Fluß d i e Verkehrsverbindung darstellt. Als Iquitos
außer Sichtweite ist, verdichtet sich der die Ufer säumende Dschungel merklich.
Nach einer Abzweigung in einen
kleineren Flußarm gelangen wir
bald zu unserer Lodge, die auf Pfählen errichtet ist und sich harmonisch in das
Landschaftsbild einfügt. Nach Anlegen an Land werden zunächst die einfachen,
aber zweckmäßigen Zimmer zugewiesen.
Dann ist Essenszeit. Bei dem hohen
Preis schlagen wir bei gebackenem Fisch, Reis und verschiedenen Gemüsesorten
(inklusive dem leckeren Palmenkraut) doppelt kräftig zu. Eine Riesenspinne,
ein Leguan, ein Frosch und ein zutraulicher Papagei begleiten unser
Freiluftmahl.
Zu einer kleinen Siesta werden die bequemen Hängematten mit Ausblick auf den
Fluß und einen benachbarten kleinen See getestet.
Dann soll
es zu den Yagua-Indianern gehen, die nicht weit von hier eine kleine
Siedlung errichtet haben. Vor allem für die fein gekleideten peruanischen Damen
unserer Gruppe ist es gar nicht so einfach, dem schmalen Dschungelpfad durch
matschiges Gelände, das zu Ausrutschern geradezu einlädt, zu folgen.
Viel schneller als gedacht ist das „Dorf“ erreicht. Hier
erwartet uns eine Komödie, die man auch als Tragödie ansehen kann: Auf einer
Lichtung stehen drei Hütten; etwas Landwirtschaft ist angedeutet, und vor der
Hütte des „Dorfoberen" steht in ganz reizender Verkleidung ein Indianer
mit Bastrock und Kopfschmuck ebenfalls aus Bast, das Gesicht rot bemalt. Kurz
vor unserem Eintreffen haben wir soeben noch mitbekommen, wie sich die anderen
„normalen" Dorfbewohner in einen fernen Winkel verzogen haben und sich die
„Original-Yagua-Familie" schnell in ihre Folklorekluft geworfen hat. Auf
diese Weise soll uns Touristen ein Eindruck vom „ursprünglichen" Leben
dieser Indianer vorgegaukelt werden. Der Clou ist die Indianer-Mutter, die -
natürlich fotogerecht – „oben ohne“ zu bewundern ist, während Jeans und
Cassettenrecorder versteckt in der Ecke liegen. Den Höhepunkt der Show bildet
ein Tanz der beiden Alten zu den schiefen Klängen von Flöte und Trommel, für
den im Anschluß selbstredend gelöhnt werden muß. Die Situation ist einfach
grotesk. Auch der Verkaufsstand mit Ketten, Blasrohren sowie Pfeil und Bogen
darf da nicht fehlen. Die Damen unserer Gruppe werden noch bunt bemalt, und
nach abschließendem Gruppenfoto mit allen Beteiligten marschieren wir mit einem
Gefühl zurück, das sich aus Belustigung, Ärger und schlechtem Gewissen
zusammensetzt. Beim Anblick solcher Dagenerationserscheinungen wird spätestens
deutlich, welch fatale Folgen die angeblich so segensreichen Einflüsse der
Zivilisation und des Tourismus für diese Menschen mit sich bringen.
Da lobe
ich mir schon eher das erfrischende Bad im Fluß, das ich trotz aller
Piraňha-Warnungen lebend und unversehrt überstehe. Außer Conni und mir,
einem weiteren deutschen (oder besser bayerischen) Paar und einem Franzosen
verlassen am Spätnachmittag alle übrigen Gäste wieder das Camp, was uns im
Hinblick auf morgige Dschungelwanderung sehr freut.
Als wir
nach dem Abendessen unseren netten Wegführer Carlos auf den Prospekttext
aufmerksam machen, in dem von einem nächtlichen Kanuausflug die Rede ist,
erklärt er sich nach anfänglichem Zögern bereit, mit uns ein wenig durch die
sternenklare Nacht zu schippern. Das Boot ist sehr wackelig, aber es bereitet
schon einen Mordsspaß, durch enorm große Seerosen hindurch, vorbei an
schwarzem, unheimlichem Wald, begleitet von vielen, zum großen Teil
undefinierbaren Geräuschen aus dem Dschungeldickicht durch das Dunkel zu
paddeln. Gelegentlich springen kleine Fische ins Boot, die gleich wieder zurück
ins feuchte Element befördert werden. Der eindrucksvolle Ausflug dauert etwa
zwanzig Minuten.
Als ich
diese Zeilen schreibe, warten Mengen von Minivampiren, genannt Moskitos,
blutrünstig auf eine Gelegenheit, mich anzuzapfen. Ich hoffe, es ihnen so
schwer wie möglich machen zu können, Autan und ein weißes Moskitotuch über dem
Bett werden mir dabei behilflich sein.
22.8. - Sonntag
So ein
Frühstück lasse ich mir gefallen: Neben Weißbrot, Marmelade und Tee gibt es
sehr schmackhafte Papaya, Ananas und Orangen, soviel man will. Carlos und sein
„Lehrling" Manrique führen uns und die beiden Bayern dann programmgemäß
einen schmalen Urwaldpfad, was sich zu einer Wanderung mit sachkundigen
Erklärungen von über drei Stunden ausweitet. Riesenbäume (z.B. Palisander),
Epiphyten (Schlinggewächse), Orchideen und andere Schmarotzerpflanzen, Palmen,
Kautschukbäume, Ananasgewächse, Bromelien und vieles mehr säumen unseren
zuweilen steil bergauf und bergab führenden Weg. Mehrere Lianenstränge
verleiten uns zu Kletterpartien und Tarzanschwüngen.
Bei all
der prächtigen Flora nimmt sich die Fauna leider etwas mickrig aus. Außer ein
paar beachtlich großen und bunten Schmetterlingen gibt es noch einige
Termitenhaufen zu bestaunen, doch dann ist schon Ebbe. Wir sind halt nicht in
der Serengeti. Carla glaubt, eine große Schlange erkannt zu haben, selbige
bleibt unseren Blicken aber verborgen. Wir kommen an einer leeren Schule vorbei
- bei dem Klima hier natürlich alles „open air" - wo nur ein paar Bänke
und eine Tafel die Existenz der Schule dokumentieren.
Als wir
müde vom schweißtreibenden Laufen unsere Lodge wieder erreichen, kommen gerade
die nächsten Gäste an. Es sind hauptsächlich junge Österreicher, die aus
Brasilien kommend, auf dem Flughafen von Freund Jaime angeworben worden sind.
Nach dem wiederum sehr guten Mittagsmahl, bei dem Conni alle Eßrekorde schlägt,
vertreibe ich mir mit dem ganz zahmen und verspielten Papagei die Zeit, mit
Dösen in der Hängematte, süßem Nichtstun und Zuschauen beim Abschied des
bayerischen „Komödienstadls".
Dann ein
Schock beim Durchsuchen meiner Fototasche: Der während der Wanderung
gewechselte Film ist weg! Alles Suchen nützt nichts, der Film mit den so
wertvollen Erinnerungen bleibt verschwunden. Ich könnte platzen vor Ärger. Eine
winzige Hoffnung bleibt mir, da ich morgen mit der neu angekommenen Gruppe
denselben Weg noch einmal, denn aber mit Argusaugen abschreiten werde. Der
Verlust läßt mich die kurz vor Sonnenuntergang durchgeführte Paddeltour über
den angrenzenden See nur mit halbem Herzen genießen. Doch wie angenehm ist die
herrliche Ruhe, die durch kein Radiogeplärre und kein Kommerzfernsehen
unterbrochen wird.
2.8.
- Montag Tamshiyacu - Iquitos
Meine
Hoffnung erfüllt sich nicht, die „Grüne Hölle“ gibt meinen Diafilm nicht mehr
preis. Obwohl wir zusammen mit Manrique den langen Weg sorgfältig absuchen,
einige besonders in Frage kommende Stellen unter die Lupe nehmen, bleiben
unsere Bemühungen ohne Erfolg. Nun, jedenfalls schnuppern wir auf diese Weise
erneut Dschungelluft und erfreuen uns der grünen Pracht, die uns gar nicht so
„höllisch“ vorkommt. Um wenigstens später zu Hause beweisen zu können, daß wir
bei „echten“ Indianern gewesen sind, begleite ich am Nachmittag auf matschigen
Pfaden die nächsten Neuankömmlinge auf ihrer Expedition zu den Yaguas. Diesmal
hat sich eine andere Indianerfamilie das Bastkostüm übergezogen, die Schau aber
ist die gleiche.
In unserer
Lodge bewundern wir später noch eine Boa, die, kurz, nachdem sie eingefangen
worden ist, aus unerfindlichen Gründen das Zeitliche segnet. Flinke Hände
ziehen ihr die Haut ab und nageln selbige als Souvenir auf ein Stück Holz.
Nicht viel besser geht es drei frisch in meinem Badewasser geangelten
Piraňhas, die uns aufgespießt und mit geöffneten Mäulern zum Abschied
anlachen.
Am späten
Nachmittag brausen wir Im Eiltempo zurück nach Iquitos, das wir kurz vor
Sonnenuntergang anlaufen. Ein Deutscher, der sich über unsere Tour informieren
will, erwartet uns schon. Während wir von unseren Erlebnissen berichten, suchen
wir gemeinsam ein Hotel auf und ziehen dann zu einem letzten Abendbummel noch
einmal los. Jaime treffen wir diesmal nicht, dafür aber seinen etwas
abgewrackten amerikanischen Freund, der ein Dosenbier nach dem anderen in sich
reinschüttet und reichlich wirres Zeug in seinem kaum verständlichen
Texas-Slang erzählt. Fast könnte man glauben, Iquitos sei ein Ort gestrandeter
Existenzen, denn auf unserem Rundgang über den abendlichen Markt begleitet uns
ein Italiener, der ohne Geld in der Tasche irgendwie nach Lima kommen will.
Hoffentlich nimmt er den etwas naiv wirkenden deutschen Studenten nicht aus.
Auf der Plaza „28 Julio" bilden sich Menschentrauben um einen Feuerschlucker
und eine Folkloregruppe, die es anscheinend aus den Anden hierher verschlagen
hat. An einem Obststand erkundige ich mich nach dem Preis für eine Orange und
kann bei dem genannten Preis nur verständnislos mit dem Kopf schütteln. Sie
soll 500 Soles kosten, das sind 1,75 DM.
24.8.
- Dienstag Iquitos - Lima
Gestern
noch ein herrlicher Sonnentag, heute regnet es zunächst in Strömen. Bei einer
„Chicha“, einem Maisbier, das nach reinem Traubensaft schmeckt und dessen
Gärungsprozeß angeblich durch die Spucke von Indiofrauen erzeugt wird, versuche
ich, mir vorzustellen, wie es hier zur Regenzeit aussieht. Dann nämlich steigt
der Amazonas um 12 Meter an, was für Belen. einen Stadtteil von Iquitos
bestimmt einen großen Vorteil hat: Sozusagen als kostenlose Müllbeseitigung
wird dann endlich der viele Unrat, der sich hier zur Trockenzeit angesammelt
hat, weggespült. Momentan ist Trockenzeit (trotz des Regens), wovon wir uns
beim Anblick unglaublicher Abfallberge vor Ort überzeugen können, Schweine und
Aasgeier teilen sich die fette Beute.
Neugierig
durchwate ich die auf Pfählen stehende, zur Regenzeit „schwimmende Stadt",
passiere eine große Schule und komme, wenn ich die Sirengesänge einiger junger
hübscher Amazonen richtig deute, an einem Bordell vorbei. Ich wage auch ein
paar Fotos, allerdings nicht von besagter Absteige. „Meine Amazone“ wartet
derweilen unruhig auf sichererem Terrain.
Wir müssen
schon für den Rückflug nach Lima rüsten. Noch einmal geht es über den
langgestreckten Markt mit Früchten und Fischen tropischer Provenienz, dann
durch die hektische Hauptstraße voller Motorradtaxen und Motorräder, die bei
diesen Temperaturen hier wirklich praktisch sind. Allerdings scheint der
motorisierte Verkehr in den Straßen von Iquitos noch konfuser und rücksichtsloser
als in anderen Gegenden Perus. Dafür wirken die hiesigen Bewohner
aufgeschlossener; besonders die meist recht hübschen Frauen geben sich viel
freier. Vielleicht ist das auch eine Folge der Bedeutung Iquitos’ als
Hafenstadt; denn hier ist via Amazonas auch der einzige Zugang Perus zum
Atlantik, der jedoch noch 3500 km weit weg ist. Bestimmt spielen auch die
steigenden Ölförderungszahlen keine untergeordnete Rolle.
Wir
erwischen auf Anhieb einen Bus zum Flughafen, wo wir pünktlich um drei
eintreffen. „Grupo 8“ heißt unsere Fluggesellschaft, die eigentlich nur
Militärtransporte, zweimal in der Woche aber auch Passagierflüge nach Lima
durchführt. Jaime hatte uns den Tip gegeben, der uns gegenüber dem
Aeroperu-Tarif die Hälfte des normalen Preises einspart. Bei „grupo 8“ soll es
zwar regelmäßige Verspätungen um mehrere Stunden geben, aber das Warten ist uns
ja nicht ganz neu.
Als wir in
der Flughafenhalle sitzen und warten, taucht ganz unvermutet noch einmal der
„Komödienstadl" auf, der bei Aeroperu gebucht hat. Wesentlich erfreuter
sind wir beim Anblick Jaimes, der auf Kundschaft wartet und uns durch seine
angenehme Gegenwart die lange Wartezeit erheblich verkürzt. Er bestätigt die
aus Schlagzeilen flüchtig mitbekommene Meldung, wonach bei Ayacucho in einem
Feuergefecht zwischen Polizei und Terroristen 42 Menschen umgekommen sind. Bei
diesen permanenten Terrormeldungen komme ich mir fast wie ein
Sensationsreporter der BILD-Zeitung vor. Aber im Moment muß es wohl schlimm
sein, wie lange nicht mehr.
Für seine
Bemühungen um unser Wohlergehen schreibe ich Jaime noch eine kurze Lobrede in
sein Vorzeigebuch für die nächsten Touristen und schenke ihm zum Abschied noch
ein Konversationslexikon, das er für seine Arbeit bestimmt gut gebrauchen kann.
Um zwanzig
vor acht sitzen wir endlich in der grupo 8-Propellermaschine, die unter
ohrenbetäubendem Getöse startet. Mit Blick auf die Uhr flachsen wir, daß sich
die Bezeichnung grupo 8 u.U. auf die Zeit des Abfluges bezieht (auch wenn die
offizielle Startzeit 16.00 h lautet). Jedenfalls befinden wir uns nun im
dunklen Bauch des großen antiquierten Vogels zusammen mit ca. 50 Passagieren,
die sich in jeweils zwei Reihen auf hängemattenartigen Sitzbänken aus Leinen
vis-à-vis gegenübersitzen. Gleich nebenan steht ein PKW, und alles macht einen
äußerst urigen Eindruck.
Für die
1500 km zurück nach Lima benötigt das viermotorige Flugzeug etwas mehr als zwei
Stunden. Mindestens tausend aufdringliche Aufreißer preisen nach unserer
Ankunft inbrünstig ihre Taxidienste an, doch wir kämpfen uns glücklich bis zum
Hotelvermittlungsdienst durch. Die nette Dame und ihre Helfer telefonieren sich
für uns die Finger nach einer im Preis erträglichen Unterkunft wund, aber
nichts zu machen. Schließlich ist es auch schon elf Uhr nachts. Also lassen wir
uns vom Aeropuerto-Bus in die Innenstadt fahren, wo wir es bei Seňora
Ibarra versuchen, einem von Rolands Spezialtips. Die Seňora ist nicht zu
Hause; trotzdem kommen wir zu einem Zimmer, wenn auch zum teuersten auf der
ganzen Peru-Bolivien-Tour. Dafür dürfen wir dann aus dem 15. Stockwerk Lima bei
Nacht bewundern.
25.8.
- Mittwoch Lima - Pisco
Unsere
diversen Aufenthalte in Lima sind eher als Stipvisiten zu bezeichnen. So auch
diesmal: Nichts hält uns hier in dieser Riesenstadt unter der ständigen
Dunstglocke, und so geht es schon heute Nachmittag weiter nach Pisco, 250 km
nach Süden an den Pazifik.
Zuvor
findet das Rätselraten um mein verkehrt ausgestelltes Rückflugticket und die
Frage, ob es mit der Änderung noch klappt oder nicht, ein Ende. Es fällt zu
Ungunsten der Esloher Schüler aus, die sich sicher gefreut hätten, wenn ich der
Schule noch einige Tage ferngeblieben wäre. Ohne weitere Komplikationen bekomme
ich einen ganz neuen Flugschein.
Und dann,
wie gesagt, frönen wir schon wieder unserer Reiseleidenschaft und sitzen im
nächsten Bus nach Pisco auf der „Panamericana Sur“ , einem Teil der berühmten
„Traumstraße der Welt". Bis auf einen Tag genau vor fünf Wochen sind wir
hier schon einmal langgebraust (siehe vorne), haben dabei aber einen von so
vielen Travellern gepriesenen Leckerbissen übergangen. Es handelt sich um die
Ortschaft Pisco und die ihr vorgelagerte Halbinsel Paracas sowie die
Ballestra-Inselgruppe, auf der es seltene Tiere zu beobachten geben soll.
Nach den
enormen Busstrapazen in den Anden erscheinen die dreieinhalb Stunden auf
geteerter, z.T. vierspuriger Straße wie ein Kinderspiel. Ein billiges
Kakerlaken-Hotel ist schnell gefunden, und bei einem Rundgang durch den Ort,
aus dem der schon mehrfach erwähnte Pisco Sour stammt, gefallen uns besonders
die phantasievoll angelegte Plaza und das Rathaus, das in seiner
verschnörkelten Verspieltheit und den kräftigen Farben an einen orientalischen
Palast erinnert.
Wir haben
nur noch zwei Tage bis zum Rückflug, der Countdown läuft also, und somit ist,
fast wie verabredet, das Abschlußtreffen mit Travellern von den verschiedensten
Stationen unserer Reise eingeläutet. Sehr überraschend ist das Wiedersehen mit
jenem Amerikaner, mit dem wir vor zwei Wochen von Yunguyo über Puno bis Cuzco
gefahren sind (Stichwort "Walkman"). Ein starker Pisco Sour läßt
Erinnerungen wieder aufleben, und eine leckere Palta beschließt den Abend.
Palta, eine zumeist mit Kartoffelsalat gefüllte Avocado, ist übrigens
mittlerweile zu unserer Lieblingsspeise avanciert.
26.8. -
Donnerstag Pisco - Lima
Das zweite
Überraschungswiedersehen findet früh um sieben statt, während wir auf einen Bus
nach Paracas warten. Zwei nette Franzosen, mit denen wir vor drei Wochen den
Chacaltaya bei La Paz im höchsten Skigebiet der Welt erklommen haben, sind nach
gänzlich unterschiedlichem Reiseverlauf auch hier gelandet, um nun dieselbe
Bootstour wie wir zu machen.
Bei immer
noch häßlich dunstgrauem Wetter tuckert das Boot mit 20 Insassen zunächst an
der Halbinsel von Paracas vorbei. Gelassen und ohne sich im mindesten von uns
stören zu lassen, stolzieren hier Scharen von Pelikanen einher, die mit ihren
überdimensionierten Schnäbeln wirklich lustig anzusehen sind. Zahlreiche andere
Vogelarten nisten in schroffen Felsvorsprüngen. Besonders eine Vogelart - ich
glaube, es sind Kormorane, sorgt für Heiterkeit und Beifallsbekundungen, da
sie, Kamikaze-Fliegern gleich, während des Flugs plötzlich fast senkrecht wie
ein Stein vom Himmel fällt, ins Wasser eintaucht und gelegentlich mit
Fischbeute wieder an der Oberfläche erscheint.
Eine
Attraktion ganz anderer Art ist ein sog, „Kandelaber", der groß und
deutlich in einem Sandsteinfelsen vor uns liegt. Es handelt sich dabei um eine
riesige, in den sandigen Untergrund gescharrte Nazca-Zeichnung, die Däniken als
Anflugzeichen für Weltraumwesen gedeutet hat. Seriösere Wissenschaftler gehen
eher davon aus, daß dieses Symbol einer Standleuchte Teil eines astronomischen
Kalenders oder ein Hinweiszeichen für die Seeschiffahrt gewesen ist.
Aber
zurück zu unserem Tierschutzgebiet, das allein schon einen Ausflug wert ist.
Nach längerer Bootsfahrt tauchen aus den Dunstschwaden die ersten Umrisse der
Ballestra-Inseln auf. Die See hat hier so gewütet, daß die Fundamente der
Inseln fast zerstört sind. „Wie gigantische Plattformen stehen sie auf
gewaltigen Felssäulen, zwischen denen die See zu kochen scheint“ (Original-Text
Goldstadt).
Und da
liegen sie nun faul auf den Felsen, robben sich mühsam vorwärts, spielen
miteinander, gröhlen laut oder schwimmen purzelbaumschlagend und vorwitzig neben
unserem Boot her: Es handelt sich nicht um eine Mallorca-Idylle, sondern um
eine ausgediente Seelöwenkolonie. Sie stellen eine solche Motivattraktion dar,
daß man aus dem Fotografieren gar nicht mehr herauskommt. Außerdem schwirren
unzählige Vögel umher, daß man sich in Hitchcocks „Die Vögel" versetzt
fühlen könnte. Ein wertvolles „Abfallprodukt" dieser nistenden und
mistenden Tiere ist der unüberseh- und riechbare Guano. Sehnsüchte nach den gar
nicht so fernen Galapagos-Inseln werden geweckt.
Nach
Umfahren der gesamten Inselgruppe schippern wir zurück zum Festland. Ich bin
froh, daß der Pazifische oder auch Stille Ozean seinem Namen heute alle Ehre
macht, denn das Wasser ist absolut ruhig. Mir war vorhin schon so schummrig,
daß ich bei Seegang für nichts hätte garantieren können. Etwas ärgerlich nimmt
die Bootsbesatzung zur Kenntnis, daß uns die versprochenen Flamingos auf einer
der Nachbarinseln vorenthalten worden sind. Es heißt, dafür hätten noch einmal
500 Soles extra berappt werden müssen...
Ansonsten
klappt alles wie am Schnürchen. Schon um halb zwei sitzen wir wieder im Bus
nach Lima.
Nach der
Ankunft schnell noch 20 Dollar gewechselt und einige Souvenirläden inspiziert.
Leider ist hier alles viel teurer als z.B. in Puno oder Cuzco,
Im „La
Merced", der Globetrotterabsteige, werde ich von der dort residierenden
Seňora bitterlich enttäuscht. Wir hatten ein Zimmer bzw. zwei Betten
reservieren und gestern vor unserer Abfahrt extra noch mal bestätigen lassen,
und nun erweisen sich Connis Befürchtungen als richtig: Es heißt schlicht und
ergreifend „completo“.
Ein Tramp
erzählt uns, daß auch sonst in der Stadt alles voll sei. Doch wieder einmal ist
uns das Glück hold. Im benachbarten Hostal „Union" ist immerhin e i n Bett
frei. Das französische Pärchen, das in dem Zimmer mit dem noch freien Bett
nächtigt, sieht nicht gerade begeistert aus, ist aber schließlich
einverstanden, daß wir den kleinen Raum mit ihm teilen. So werde ich diese
letzte Nacht in Peru also auf dem Fußboden verbringen. Aber wir sind ja froh,
ein Dach über dem Kopf zu haben.
Nun haben
wir noch etwas Zeit, die letzten Mitbringselbesorgungen zu tätigen, als ich
zunächst vor Angst erstarre: Auf der vor Menschen überquellenden „Union",
der Haupteinkaufstraße, bricht fast eine Panik aus. Menschenmassen laufen
plötzlich in Aufruhr und schreiend genau in die Richtung, aus der wir gerade
kommen. Ich sehe nur Polizei am Straßenende, etwas brennt und qualmt
fürchterlich, und ich denke wie wahrscheinlich die meisten flüchtenden Leute,
daß gemäß der terroristischen Bedrohung jeden Augenblick eine Bombe hochgeht.
Conni hat diese Befürchtung wohl nicht, denn sie bleibt zunächst stehen, läßt
sich von den panischen Massen überholen und bewegt sich dann langsam in die
andere Richtung, während ich vor einem Bankeingang vor Angst und Zorn fast
vergehe.
Das
Scheppern der Blechverschläge signalisiert, daß die Geschäfte wie letzte Woche
beim Stromausfall sofort die Schotten dichtmachen. Der erste Löschwagen ist im
Anzug.
Nach und
nach beruhigt sich die Lage wieder, als deutlich wird, daß wohl wirklich nur
ein Schwelbrand Ursache der Aufregung gewesen ist. Sicherheitshalber schlagen
wir einen anderen Weg ein; mein Herzklopfen verflüchtigt sich nur langsam.
Beim Kauf
eines kleinen, handbemalten Tondöschens sitzt mir der Schreck immer noch in den
Gliedern und wird kaum geringer, als ich in meinem Portemonnaie fortschreitende
Ebbe feststellen muß. Prompt lasse ich das schöne Stück fallen und muß mich nun
mit einem Scherbenhaufen begnügen. Dann holen wir bei Seňora Ibarra (die
mit der teuren Pension) unsere dort deponierten Rucksäcke ab.
Auf dem
Rückweg zu unserem Ein-Bett-Hostal kehren wir in einem Lokal ein, um noch
einmal in aller Ruhe eine Palta zu genießen. Und leider, wie schon so oft auf
dieser Reise, heißt es stereotyp „no hay“ - ist nicht mehr da, haben wir nicht.
Ein Nudelgericht für zwei tut's schließlich auch. Neben uns unterhalten sich in
einer Runde sehr theatralisch und überlaut ein paar Männer, die es in ihren
angeregten Gesprächen aber nicht bei Gestik, Mimik und Lautstärke belassen,
sondern zwischendurch immer wieder donnernde Arien zum besten geben. Daß dazu
aller Abfall auf den Boden geworfen und kräftig gerotzt wird, muß man einfach
ignorieren. Allerdings wäre heute Nachmittag ein Ober fast auf einem solchen
glitschigen Fladen ausgerutscht.
Noch
einmal treffen wir unseren amerikanischen Freund und schleichen uns dann
hundemüde in unser Nachtquartier, in dem die beiden Franzosen schon selig
schlafen.
27.8. - Freitag
/ 28.8. - Samstag
Rückreise: Lima -
Bogota - Caracas - Madrid - Paris - Amsterdam – Wenholthausen
Aber das
ist Zukunftsmusik - noch sind wir ja in Peru und sehen zu, daß wir auch die
letzten Stunden in diesem Land gut über die Runden bringen. Nach einigermaßen
passabler Übernachtung auf dem Fußboden von besagtem Billig-Hotel bekommen wir
ziemlich bald eine Fahrgemeinschaft zum Flughafen zusammen mit anderen
Deutschen, die mit langen Blasrohren vom Amazonas, Wandteppichen, Webbildern
und vielem mehr alle Ritzen des Wagens füllen.
Auf dem
Flughafen heißt es erst mal wieder Schlange stehen. Es geht nur schleppend
vorwärts mit dem Einchecken; der Flug Ist vollbelegt. An einem anderen Stand
müssen pro Person 10 Dollar „Airport-Tax" bezahlt werden, eine in unseren
Augen reichlich überflüssige Ausgabe, um die wir in Venezuela so elegant
drumrumgekommen sind (siehe vorne). Immerhin haben wir von unserem Gesamtbudget
von 1600 Dollar noch stolze 140 Dollar übrig, was uns im großen und ganzen
einigermaßen sparsames Wirtschaften und gutes Kalkulieren bescheinigt.
Zum
Abschluß der Fahrt findet die reinste Wiedersehensfeier statt: U.a. treffen wir
die beiden Bayern aus der Dschungellodge am Amazonas, die mit Aeroflot
zurückfliegen, sowie das Essener Lehrerpaar, das uns in Puno am Titicacasee mit
500 Soles ausgeholfen hatte, als wir keine Schecks wechseln konnten. Die
tollsten Schauergeschichten werden uns da aufgetischt von aufgeschlitzten Taschen,
geklauten Rucksäcken und Armbanduhren, Krankheiten und anderem Ungemach, daß
wir uns nur noch wundern können, ohne jeden Schaden davongekommen zu sein. Was
uns abhanden gekommen ist, läßt sich schnell auflisten: ein belichteter
Diafilm, ein Paar Handschuhe, eine Taschenlampe und eine Seife - und alles aus
eigenem Verschulden. Dafür bereichert uns seit einiger Zeit ein Schlüssel,
dessen Herkunft wir beim besten Willen nicht ermitteln können. Daß ich im
Gegensatz zu meiner Asien-Tour diesmal ohne jeden Schimmer einer Krankheit
davongekommen bin und auch Conni immer nur kleinere Wehwechen gehabt hat, ist
ein echter Glücksfall bei d e n Möglichkeiten, sich etwas einzufangen.
Kurz vor
eins sitzen wir in unserer VIASA - DC 109 die uns in 23 Stunden über den großen
Teich zurück nach Hause bringen soll. Mit knurrenden Mägen erwarten wir die
erste Bordverpflegung, während Lima in der unvermeidlichen Dunstglocke langsam
aus unserem Blickfeld verschwindet. Eigentlich schade, daß wir trotz mehrfacher
Aufenthalte in Lima im Grunde so wenig von der Stadt gesehen haben. Sogar für
die als „Muß" einer Peru-Fahrt eingestuften Kulturstätten, wie das
Archäologische oder das Goldmuseum, hat es letztendlich nicht mehr gereicht.
Reizvoll wäre neben dem Besuch des Villenvorortes Miraflores sicher auch das
Erotische Museum gewesen, da wir schon in so manchen Souvenirläden erotische
Inca-Spezialitäten in Form kitschiger Nachbildungen bewundern konnten. Die gezeigten
Phallus-, Koitus-, Fellatio- und anderen körperlichen Darstellungen, die nach
unseren heutigen Maßstäben ganz klar unter die Kategorie „Pornographie"
fallen würden, erinnerten mich stark an die vor vier Jahren besichtigten
„Pornotempel“ in Indien (damaliger Ausspruch von Roland).
Vom
„Schweinskram" zurück zur Gegenwart, zu unserem Flug über die
wolkenverhangenen Anden mit Zwischenlandung in Bogota. Bevor es zur nächsten
Landung in Caracas kommt, beschert uns der Kapitän während einem der vielen
leckeren Mahle noch einige Schreckminuten, als er per Lautsprecher ohne ersichtlichen
Grund zum Anlegen der Gurte auffordert. Keiner weiß Bescheid; selbst die
Stewards und Stewardessen scheinen überrascht und gehen, die Servirwagen
festhaltend, in die Hocke. Einige Turbulenzen werden spürbar - offenbar eine
Schlechtwetterfront - doch bald schon ertönt das erlösende Klingelzeichen für
Entwarnung, und wir können die beinah im Hals steckengebliebenen Bissen in Ruhe
zu Ende kauen. Zumindest wird uns nun verständlich, warum nicht nur PKW-, LKW-
und Busfahrer sich bei Fahrtantritt und -ende bekreuzigen, sondern auch die
Besatzungen in Flugzeugen.
In Caracas
haben wir dreieinhalb Stunden Aufenthalt, der zur Platzverteilung (diesmal
leider nur Mittelgang und bei „smoking“) und zu einer Inspizierung der teuren
Duty-Free-Shops genutzt wird.
Vor der
Abfertigung einer Linienmaschine nach Frankfurt wird unseren Zufallstreffen die
Krone aufgesetzt. Wir glauben, unseren Augen nicht trauen zu können, als wir
unter den Passagieren Johannes, einen Bekannten aus einer Essener
Wohngemeinschaft, erkennen, mit dem wir über Pfingsten zusammen beim Segeln in
Holland gewesen sind. Johannes hat seine Sommerferien in Ekuador verbracht und
ist nun wie wir auf dem Rückflug nach Deutschland.
Nach 10
Minuten ist der Wiedersehensspuk vorbei, und bald geht auch unser Flug weiter.
Während über Kopfhörer Mozarts „Kleine Nachtmusik“ säuselt oder in abruptem
Wechsel die Rolling Stones hämmern, lassen wir eine Freßorgie nach der anderen
über uns ergehen. Der reinste Freßstreß ist das. Zwischen den einzelnen
Mahlzeiten bleibt uns kaum Zeit, zur Feder zu greifen und Tagebuch zu
schreiben.
Um 2 h 30
peruanischer Zeit erscheint am Horizont ein heller Schein, der rasch an
Helligkeit und Röte zunimmt, bis schließlich die Sonne zum Vorschein kommt. Ein
toller Anblick über einem Meer von Wolken. Wir befinden uns irgendwo über dem
Atlantik und müssen schon einige Zeitzonen überquert haben. Die Zeitdifferenz
zwischen Peru und der MEZ beträgt bei Sommerzeit sieben Stunden, die wir
gegenüber dem Hinflug nun „verlieren“.
Noch drei
butterweiche Landungen (seit Madrid haben wir Fensterplätze - Paris zeigt sich
in der Ferne mit Eiffelturm und Sacrė-Coeur von seiner besten Seite), und
wir sind wohlbehalten und abgefüttert in Amsterdam. Jetzt muß erst mal ein
kräftiger Schluck Jenever her. Wie sich später herausstellt, haben Conni und
ich im Verlauf der Reise eine kleine Gewichtsumverteilung vorgenommen: Ich habe
zwei Kilo abgenommen, während Conni zwei zugelegt hat.
In
Amsterdam scheint eine angenehm warme Abendsonne, die uns auf der Rückfahrt ins
Sauerland noch einige Zeit begleiten wird. Es ist kurz nach sechs, und entsprechend
tropischem Tageszeitenklima würde es jetzt in dem mittlerweile so fernen Peru
schlagartig dunkel. Das Flugzeug ist superpünktlich gelandet. Man merkt, daß
man wieder in Europa ist, wo es bekanntlich auf die Sekunde ankommt. Doch
selbst Michael und Regina, die wenig später eintreffen, sind bei dieser
Riesendistanz von soviel Pünktlichkeit überrascht. Ein gemeinsames Ankunftsfoto
komplettiert meine Fotoserie.
Das
Abendrot am Horizont läßt meine Gedanken etwas wehmütig noch einmal um die
Erlebnisse der vergangenen Wochen kreisen. Es bleibt die Erinnerung an eine
rundum gelungene Reise, die zusätzlich durch Dias und diese
Tagebuchaufzeichnungen für immer lebendig bleiben wird.
Doch es
dauert nicht lange, und in mir meldet sich schon wieder der Reise-Nimmersatt,
der mir sagt,
daß die nächsten Ferien nicht mehr fern sind. Und dazu fallen mir die ersten
Zeilen eines Liedes von Konstantin Wecker ein: "Wenn der Sommer nicht mehr
weit ist und der Himmel violett, weiß ich, daß das meine Zeit ist, weil die Welt
dann wieder breit ist, satt und ungeheuer fett.“