Reinhard Scholtz

 

Auf Rucksacktour durch 

Venezuela,Peru und Bolivien

Tagebuchaufzeichnungen einer Südamerikareise
(17. Juli - 28. August 1982)

Eine schwierige Geburt!
Der Countdown für den Beginn unserer Reise läuft - und die Pässe sind immer noch nicht eingetroffen. Bange Stunden, Stunden voller Angst und vager Hoffnung. Und wofür das alles? Es hat geheißen, ohne Visum sei keine Einreise nach Venezuela möglich. Diese Fehlinformation von Seiten der Venezolanischen Botschaft und die ungeheure Schludrigkeit des Konsulats haben dazu geführt, daß unsere Pässe nicht – wie sie sollten - in unseren eingenähten Hosentaschen sind, sondern auf dem Postweg von Frankfurt nach Wenholthausen. Und das wenige Stunden vor dem geplanten Abflug! Sollte das ein Vorgeschmack auf die so häufig zitierte Maňana-Mentalität der Südamerikaner sein?

Aber genug des Lamentierens; denn als ich diese Zeilen schreibe, sitzen Conni und ich längst zufrieden und ledig aller Reise-Bauchschmerzen  in der DC 10 der VIASA, der venezolanischen Fluglinie. Unser langgehegter Traum von Ferne, Abenteuer, Indios am Titicacasee, Andenzauber und Urwaldfieber kann nun Realität werden: Südamerika kommt näher mit ca. 800 km in der Stunde. Etwas über vier Jahre nach meiner ersten echten Globetrottertour, damals durch Asien, reihe ich mich wieder ein in die Heerschar der Rucksackjünger, diesmal bewaffnet mit jenem fast schon legendären blau-gebundenen Mammutwerk, dem „South-American Handbook", das jedem Traveller ohne „Neckermann-Mentalität“ als eine Art Reise-Bibel auf Südamerikatrips dient.

Bis es soweit war, konkrete Reisevorbereitungen zu treffen, gab es zunächst einige Hürden zu überwinden: eine alljähr­lich drohende Versetzung an eine andere Schule wegen der hiesigen „Lehrerschwemme" mit eventuellem Umzug sowie Connis neu angetretene Stelle in Dorlar und die Frage nach Urlaub für immerhin sechs Wochen standen dabei im Vordergrund. Das alles konnte mich nicht davon abhalten, daß ich mich mit ähnlicher Euphorie wie vor vier Jahren in Berge von Globetrotter- (oder wie man heute trendgemäß sagt: „alternative" Reise-) Literatur stürze, mir von altgedienten Reise- und auch Südamerikaexperten wie Roland und Klaus etliche Tips einhole, Listen, Pläne und Routenzusammenstellungen anfertige (natürlich immer zusammen mit Conni) und schließlich den unumgänglichen Impfmarathon einleite. Letztlich hieß es nur noch auf die Tickets und (wie be­schrieben) die Pässe sowie die Großen Ferien warten.

Folgenden Fahrtverlauf haben wir für die kommenden sechs Wochen geplant: drei Tage Caracas/Venezuela mit einem Ab­stecher an die karibische Küste, jedoch als Hauptreiseziel eine viereinhalbwöchige Rundfahrt durch Peru mit den Schwerpunkten Anden und Amazonastiefland. Dazwischen stehen noch einige Tage Bolivien mit  La P a z auf dem Programm und evtl. ein Kurzab­stecher nach Arica in Nordchile.

17.7. -  Samstag                Reiseverlauf: Amsterdam - Paris - Madrid -Caracas

Während ich die „schwierige Geburt" beschreibe, sitze ich in der inzwischen vollbesetzten Maschine, die in Paris und Madrid weitere Passagiere aufgenommen hat. Es ist fast drei Uhr nachts; und während wir gemütlich über den Atlantik fliegen, dürften Micha und Regina, die uns nach Amsterdam gefahren haben, in ihrem winzigen Hotelkämmerchen in der Grachtenstadt längst von großen Schlafzimmern und gemütlichen Doppelbetten träumen. Aber wer weiß, was in dieser Hinsicht noch auf uns zukommt, da neben allem Erlebnishunger auch Sparwille und einfaches Leben mit möglichst wenig Nur-Konsum in Anpassung an die Gegebenheiten der Länder praktiziert werden sollen.

Inzwischen sind die Ohrhörer übergestülpt, vorne auf der Bordleinwand beginnt ein Film mit George Segal, den man sich je nach Gusto in Deutsch oder Spanisch anhören kann, und ich bin gespannt, wie wir die wahrscheinlich schlaflose Nacht und die Umstellung auf sechs Stunden Zeitunterschied überstehen.

 

18.7. –  Sonntag
14 1/2 Stunden Flug liegen hinter uns. Nach geglückter, wenn auch etwas harter Landung gibt’s Applaus. Wir beeilen uns, alle anfallenden Formalitäten zu erledigen, Geld zu wechseln und uns in tro­pischer Schwüle auf die Suche nach einem Bus Richtung Cara­cas zu begeben. Kaum haben wir das klimatisierte Flughafen­gebäude verlassen, spricht uns auch schon ein Mann auf Englisch an und fragt, ob er uns in das 14 km entfernt gelegene Stadtzentrum mitnehmen könne. Etwas skeptisch gehen wir auf das Angebot ein, nachdem er versichert hat, daß er nicht zu den obligatorischen Taxi-Aufreißern gehöre und lediglich vergebens auf eine Person am Flughafen gewartet habe. Duplizität der Ereignisse: vor vier Jahren erlebte ich eine ähnliche Ouvertüre, als uns in Teheran ebenfalls zu fast noch nächtlicher Stunde (zwischen vier und fünf in der Frühe) ein gut englisch sprechender Mann ins Stadtgebiet beförderte und uns vorab eine Menge Informationen gewissermaßen aus erster Hand über Land und Leute gab. So auch diesmal, als wir in einem stark schrottreifen ameri­kanischen Schlitten über den Highway gen Caracas brausen. Meine Zweifel an den „ehrlichen Absichten" des Fahrers ver­flüchtigen sich mit fortdauernder Fahrt. Unter anderem bekommen wir von unserem netten „Reiseleiter" folgende (z.T. für uns nicht mehr ganz neuen) Informationen:

Venezuela, im Norden Südamerikas gelegen, hat rund 12 Mio. Einwohner, die Hauptstadt Caracas etwa 3 Mio. Den Norden und Nordwesten nehmen die Ausläufer der Anden ein, die Küste gehört zum karibischen Raum. Entsprechend der Nähe zum Äquator ist das Klima (zumindest im Tiefland) tropisch schwül, wovon wir uns ja schon überzeugen konnten.

Venezuela hat sich in den vergangenen Jahren vor allem als der drittgrößte Erdölexporteur der Welt hervorgetan, was neben allem Wohlstand aber auch erhebliche Probleme gezeitigt hat. So sind hier nach abflauendem Höhenflug im Ölgeschäft die sozialen Gegensätze besonders groß. Eine enorme Landflucht verschärft die soziale Spannung zusätzlich. Eben diese Landflucht findet bei unserer Fahrt Richtung Caracas ihren deut­lich sichtbaren Ausdruck, da sich überall wild wuchernde Elendsviertel in die umliegenden Berge eingenistet haben. Ohne Kanalisation und häufig ohne Strom fristen hier Hundert­tausende ein ärmliches Dasein unter dem Existenzminimum mit der trügerischen Hoffnung auf Arbeit und soziale Verbesserung.
Der Gegensatz zwischen Arm und Reich wird uns schon bald drastisch vor Äugen geführt: Nachdem wir die Elendsviertel hinter uns gelassen haben, präsentiert sich uns eine Gigantomanie ersten Ranges: wo man hinsieht, Beton und abermals Beton; dazu Straßen mit vier, sechs oder acht Spuren und entsprechend Autos, Autos, Autos... (meist amerikanischen Fabrikats).

 Irgendwo habe ich gelesen, daß Caracas zu den schönsten Städten der Welt zu zählen sei. Auch wenn man in der Regel über Geschmack nicht streiten kann, so erscheint uns dieses Urteil nach den ersten Eindrücken einfach absurd. Selbst unser netter Fahrer, ein Geschäftsmann mit Welterfahrenheit, läßt sich nicht davon abbringen, immer wieder die Häßlichkeit dieser Stadt anzuprangern.

Nun, bei aller Häßlichkeit kommen wir nicht umhin, uns nach herzlicher Verabschiedung auf Zimmersuche zu begeben. Was die Quantität des Angebots betrifft, gibt es da kaum Probleme doch müssen wir bald erkennen, daß das Preis-Leistungs-Verhältnis mit den gewohnten Maßstäben nicht zu messen ist. Vorhin sprach ich noch vom Sparen, und nun befinden wir uns in einem Loch von einem Zimmer auf engstem Raum für sage und schreibe umgerechnet 42 DM - und das war noch das billigste! Ein schöner Vorgeschmack auf das Preisniveau in diesem Land.

Nach diesem Schock gönnen wir uns erstmal eine Mütze Schlaf, um dann mit wiedergewonnenen Kräften die Stadt näher zu erkunden. Der erste schlimme Eindruck von vorhin bestätigt sich auch bei genauerem Hinsehen. Neben einer wahren Betonwüste nehmen sich die Elendsviertel, die sog. „barriadas“ an den umliegenden Hängen fast schon malerisch aus. Nach längerem abgasreichen Marsch durch ein diffus angeord­netes Häusermeer erreichen wir eine dieser Betonburgen, die sich von innen zu unserer Freude dann aber als sehr sehens­wertes Museum entpuppt. Das „museo de bellas artes" beherbergt neben besonders augenfälliger "Pop-Art" Kunstrichtungen vornehmlich südamerikanischer Couleur. Während unseres Besuchs beginnt in einer der Hallen ein Bläserquintett, ein (Werk von Hindemith zu spielen, dem wir einige Zeit zuhören.
In dem angrenzenden Park tummeln sich Jogger, Familien und Eisverkäufer. Das tropische Klima mit seiner Treibhausschwüle treibt nicht nur Schweiß, sondern uns auch mehrmals an Cola-Stände.

Nach gewaltigem Fußmarsch erreichen wir endlich so eine Art Zentrum mit Geschäften, einer Kathedrale (ausnahmsweise nicht aus Beton) und einem Brunnenplatz, auf dem Erwachsene und Kinder im schicken Sonntagsstaat promenieren. Interessant dabei die unterschiedlichen Hautfarben von weiß bis pechschwarz: ein anscheinend harmonierender Schmelztigel.

Ein chaotischer Oldtimer-Bus bringt uns zurück in unseren Stadtteil „Sabana grande", in dem „unser“ Hotel liegt und wo wir eingerahmt von vornehmen Geschäften und Restaurants uns den Luxus einer sündhaft teuren Portion Spaghetti Bolognaise und eines herrlichen Melonenfruchtgetränkes leisten. Offen­sichtlich gibt sich hier die Hautevolée ein Stelldichein. Zum ersten mal kommt so etwas wie Atmosphäre auf in dieser Stadt.

19.7. -  Montag               Caracas - Macuto
Der nächste Härtetest steht bevor: nach unwilliger Begleichung der Hotelrechnung geht's mit vollem Marschgepäck (Rucksack und Tasche wogen vor Fahrtantritt 88 kg, allerdings inclusive meiner 70 kg ...) auf die Suche nach einer Drahtseilbahn. Da mir keinen passenden Bus finden, oder besser: wir uns nicht genügend verständlich machen können, trotten wir Kilometer um Kilometer bergauf, bis wir schließlich fast vor dem zu erklimmenden Berg stehen und uns ein Zeitungsverkäufer lakonisch darauf aufmerksam macht, daß die Bahn nicht in Betrieb sei. Nun, was soll's - wir springen kurzerhand in einen der zahllosen Busse und machen für 60 Pfennige eine Art Stadtrundfahrt, die nach zwanzig Minuten im Zentrum endet. Hier brauchen mir nicht lange nach einem Anschlußbus zu fahnden, der uns nach Macuto, einem Badeort 30 km außerhalb von Caracas, bringt.

Vorbei am Hafen von La Guaira führt die Fahrt entlang der Küste mit schönen Sandstränden nach Macutowhich is dirty and littered and the pavements are broken and hazardous" (South American Handbook). Die Bürgersteige hier sind in der Tat nichts für einen „Hans-guck-in-die-Luft", aber ansonsten erwartet uns ein mondäner Badeort mit exklusiven Hotels und Restaurants. Doch leider sind auch die Preise wieder entsprechend.  Bis aufs Busfahren liegt alles erheblich über deutschem Level.

Das von Roland empfohlene Hotel Diana finden mir nicht, so daß Conni und ich zwecks weiterer Recherchen uns für einige Zeit trennen. Als ich schweißtriefend nach einer halben Stunde zurückkehre, um Conni mitzuteilen, daß unter 90 Bolivares (= 54 DM) pro Nacht hier nirgendwo etwas zu finden ist, stellt sie mir einen jungen Mann vor, der ihr zwischenzeitlich zum „Small-Talk" ein Bier spendiert hat. Ibrahim ist 35, spricht leidlich Französisch und möchte uns, so seine Worte, zu sich nach Hause einladen. Etwas zögernd willigen wir ein und sitzen auch schon in einem Collectivo, einem der vielen Kleinbusse, die überall wo nötig Passagiere aufnehmen und rauslassen. Wenig später befinden wir uns in einem Haus mit Wellblechdach, das offensichtlich eine größere Anzahl von Personen beherbergt und das sicher nicht zum Reichenviertel des Ortes gehört. Der Satz „We’re poor but we’re rich in mind" scheint den Nagel auf den Kopf zu treffen, denn alle hier versammel­ten oder nach und nach eintrudelnden Menschen sind sehr freundlich und sind, wie sich herausstellt, eine große Familie. Ibrahim erzählt, daß er 36 Geschwister habe, wobei allerdings „nur“ acht von derselben Mutter sind. Schließlich machen wir auch die Bekanntschaft dieser fleißigen Frau, welche uns gleich nach der Begrüßung mit ekelhaft süßem Kaffee eine Kammer herrichtet. Damit nun die Gastfreundschaft nicht gar zu sehr überstrapaziert wird, einigen Ibrahim und ich uns auf einen Übernachtungspreis so zwischen 12 und 18 DM, was bei dem Anheuerungsversuch sicherlich von vornherein einkalkuliert gewesen ist.

Um nun die ganze lange Geschichte des Ibrahim, seiner hübschen argentinischen Frau und seiner so zahlreichen Familie zu er­zählen, bräuchte ich wohl Seiten, so daß ich mich auf das bis hierher Geschriebene beschränke in der Annahme, daß auch vom morgigen Tag noch zu berichten sein wird. Hoffentlich klappt es mit der Konversation noch besser, denn unsere mickrigen Spanischkenntnisse aus vergangenen VHS-Zeiten sind doch ein arges Handicap.

Gegen Abend verbringen wir noch einige Zeit am einladenden Strand von Macuto und landen zuletzt in einem viel zu kühlen „Tropic-Burger" (Mc Donald’s läßt grüßen) bei Hot Dog und „leche“ (Milch). Wir sind gespannt, ob wir den Weg in unsere hoch am Berg gelegene „barriada de luxe“ bei der Dunkelheit finden werden.

 

20.7. –  Dienstag

Nach langem inneren Ringen haben wir den Entschluß gefaßt, die Segel zu streichen. Unser äußerst unbequemes Nachtlager mitten im Wohnzimmer, nur durch einen Vorhang abgetrennt, ist zwar mit Herzlichkeit hergerichtet, verlangt uns zivilisierten Westlern aber doch einiges ab: Kakerlaken marschieren unbekümmert neben Riesenkäfern einher, die „Toilette" ist ohne Wasserhahn, statt dessen mit improvisierter Dusche, nichts funktioniert, und der Blick vor das abenteuerlich zusammengeschusterte Haus auf Berge von Abfall verdirbt den letzten Appetit. Das durchgelegene, schmale Bett hat zudem während der Nacht einiges artistisches Können abverlangt, um eine einigermaßen brauchbare Schlafstellung einzunehmen, und zu guter Letzt ist noch bis lange nach Mitternacht von den vielen Menschen sowie lautdröhnendem (Farb!-)Fernseher und Cassetten-Recorder ein solcher Lärm an unsere Schlaf­stätte gedrungen, daß selbst mein sonst so bewährtes Ohropax versagt hat. Nein, unser Entschluß steht fest.

Nach überprüfen unserer Finanzen geben wir am Morgen mit ganz schlechtem Gewissen vor, unser Flugzeug gehe bereits heute Abend. Leicht fällt mir das Flunkern bei soviel Nettig­keit wahrlich nicht. Man tauscht Adressen, ich mache ein im Eifer des Gefechts sicher verwackeltes Foto, und zuletzt muß ich Ibrahim nach Begleichung unserer „Rechnung" noch versprechen, daß ich mich in Peru nach den derzeitigen Haschischpreisen erkundigen werde, da er sich mit dem Handel dieses Rauschmittels wohl weitgehend seine Brötchen verdient.

Anschließend begeben Conni und ich uns direkt hinunter an den Strand, beziehen unverzüglich ein Zimmer im doch nur 80 Bolivares teuren Strandhotel „Villa del Mar" und genießen erst mal ein breites Bett, Dusche und durch den Ventilator erträgliche Temperaturen. Nach Schreiben dieser Zeilen werden wir nun endlich noch „Karibik satt" erleben können und uns in die warmen Wogen stürzen. Diese sind mindestens 23-24°C warm und nicht von schlechten Eltern. Neben dem bombastischen Sheraton-Hotel sind emsige Jungen damit beschäftigt, sich die Wogen auf kleinen Brettern bäuchlings zu Nutze zu machen, betreiben also echtes Surfen, das ja ursprünglich ohne Wind und Segel ausgeübt worden ist und noch wird. Das saubere Wasser lädt zu langem Schwimmen ein, ein Grund für unseren Karibikabstecher, da es ab morgen in Peru kaum noch Gelegenheit zum Baden geben wird. Als Mitbringsel von hier werden wir auf alle Fälle einen leuchtenden Sonnen­brand mit auf die Weiterreise nehmen. Leuchtend ist auch das herrliche Abendrot, das unser leckeres Fischmahl direkt am Meer begleitet und das tropische Träume doch noch wahr werden läßt.

 

21.7. -  Mittwoch              Caracas - Bogota – Lima
Was uns heute morgen widerfährt, gleicht einem Krimi mit allergrößtem Nervenkitzel:

Um viertel nach fünf in der Frühe, es ist noch stockfinster, stehen Conni und ich an der improvisierten Bushaltestelle und warten auf einen Bus Richtung Flughafen. Die Maschine soll um sieben Uhr starten. Es wird halb sechs, der zweite Bus kommt, doch beim Namen „Aeropuerto Maiquetia" wird nur abgewinkt. Um viertel vor sechs wird es uns zu bunt; wir springen in einen Bus, obwohl der Fahrer wiederum erklärt, daß er nicht dorthin fahre. Was bleibt uns übrig. Um fünf nach sechs steigen wir aus, oder besser stürzen hektisch heraus, da wir den Flughafen in einiger Entfernung gesichtet haben. Wir nehmen unsere Beine in die Hände und rasen los. Die Schlepperei wird zur Qual bei dieser Affenhitze. Plötzlich endet die Straße abrupt an einem Drahtverhau. Da hilft nur eines: Rucksack rüberwerfen und drüberklettern. Dann der nächste Schock: das Flughafengebäude wird zur Fata Morgana, da hier nur Inlandflüge abgefertigt werden. Für die Forderung eines unverschämten Taxifahrers, der uns für zehn Dollar zum richtigen Flughafen fahren will, haben wir nur ein verzweifeltes Lächeln übrig: No cash dollars! Also noch einmal zusammenreißen und weiter. Ich presche mit Connis Paß und Ticket vor und erkenne endlich das richtige Gebäude. Um zwanzig vor sieben, also zwanzig Minuten vor der offiziellen Abflugszeit stehe ich völlig erschöpft und schweißtriefend vor dem Abfertigungsschalter. Die mir noch von der Ankunft vor drei Tagen äußerst unsympathische, da sture und unfreundliche Schalterdame läßt meine vagen Hoffnungen auf den Nullpunkt sinken. Nichts geht mehr, angeblich. Auch die Dame am nächsten Schalter schüttelt, nachdem sie mit dem Flugzeugkapitän telefoniert hat, nur den Kopf, obwohl ich ihr in meinem erbärmlichen Zustand, dem Heulen nahe, sichtlich leid tue.

Conni ist nun auch da. Wir stürzen in unserer Verzweiflung einfach zur Gepäckabfertigung, und siehe da, ein Hoffnungsschimmer: unsere Rucksäcke werden angenommen. Fünf vor sieben!

Wir wollen durch die Kontrolle, doch da ist von einer zusätzlichen Flughafengebühr die Rede. Woher sollen wir die fünf Dollar pro Person nehmen, da wir dummerweise keine Bar-Dollars und auch keine Bolivar mehr haben? Nochmals rasen wir los, diesmal zum Wechselschalter, wieder an allen Wartenden vorbei. Der Reisescheck ist schon ausgefüllt - aber wo ist nun wieder mein Paß? In der Ferne sehe ich Conni mit den Pässen — aber auch mit den so notwendigen Gebührenbescheinigungen wedeln. Kurzerhand hat sie diese der Schalterdame entrissen, also wieder Hoffnung! Ohne zu bezahlen (wie auch?) passieren wir mit den Bescheinigungen die Kontrolle; schnell werden noch die Taschen durchleuchtet, und endlich - um fünf nach sieben - sitzen wir wider alle Erwartungen in dem Flugzeug nach Lima. Es ist tatsächlich geschafft; wir aber auch!!

Nun haben wir Zeit zum Luftholen. In der Maschine treffen wir auf einige vom Flug Amsterdam - Caracas bekannte Gesichter. In Bogota/Kolumbien landen wir eineinhalb Stunden später zwischen. Von nun an haben wir wieder Fensterplätze und können so die herrliche Aussicht auf die z.T. schneebedeckten, formenreich aufgefalteten Anden genießen.

Beim Anblick dieses von gewaltigen Erdkräften geschaffenen Wunderwerks kommt mir in den Sinn, daß wir nun irgendwann den Äquator überfliegen müssen. So fliegen wir quasi mitten in den peruanischen Winter, wenn man in tropischen Breiten überhaupt von Jahreszeiten sprechen kann. Die Schulweisheit hat uns schließlich gelehrt, daß in den Tropen ein sog, Tageszeitenklima herrscht, die Klimaschwankungen also eher im Verlaufe eines Tages als während des gesamten Jahres spürbar werden. Allerdings trifft dies für Peru nur bedingt zu, da hier wegen der Anden, dem Amazonastiefland und dem vom Humboldstrom beeinflußten Küstenstreifen im Grunde alle Klima- und Vegetationszonen dieser Erde vorhanden sind.
Zuerst nun dürfen wir uns auf ein wolkenverhangenes Lima freuen, da eben erwähnter Humboldtstrom zu dieser Zeit des Jahres durch sein kaltes Wasser für ständige Kondensation und ein entsprechend dichtes Wolkenband über der perua­nischen Hauptstadt sorgt. Nix „prima Klima in Lima", von dem die Gruppe „UKW" in ihrem Dauerbrenner „Ich bin ja so verschossen ..." schwärmt!

Dennoch, wir scheinen heute das Glück gepachtet zu haben, da uns wider Erwarten bei der Ankunft eine hell leuchtende Sonne begrüßt.

Nicht nur die Schlange vor dem Ankunftsschalter, sondern auch etliche Taxi-Aufreißer lassen wir schnell hinter uns und besteigen einen in der Nähe des Flughafens haltenden klapprigen Bus, mit dem wir in Richtung Stadt zuckeln. Neugierig werden wir von allen Seiten gemustert. Vor allem für die vielen Schüler in ihren grauweißen Schuluniformen stellen wir offensichtlich eine Attraktion dar. Die Fahrt gestaltet sich zur reinsten Rundreise durch die Vororte Limas, die sog. „pobles jovenes", was man schmeichelhaft mit „jungen Siedlungen" übersetzen könnte. Zwar sehen die flachen Steinhäuser vergleichsweise standfest aus und sind den rie­sigen Elendsvierteln sicher vorzuziehen, doch können auch sie die Armut und Unterentwicklung nicht verdecken, die hier wie da Kennzeichen der großen Städte sind. Man muß sich vorstellen, daß zu den über vier Mio. Einwohnern Limas Jahr für Jahr ca. 400 000 hinzuziehen bzw. durch natürliche Bevölkerungszunahme hinzukommen. Anstatt weitere Fakten aufzuzählen, möchte ich an dieser Stelle so quasi als Einstimmung auf das, was uns an Schönem, In­teressantem, Irritierendem und nicht zuletzt scheinbar Paradoxem auf der nun beginnenden Rundreise erwartet, einen Abschnitt aus Thilo Koches „Interview mit Südamerika" zitieren, den ich in einem Erdkundebuch entdeckt habe:

„Slums in Lateinamerika sind keine Asyle für den Abschaum der Gesellschaft. Die Kriminalität ist nicht so hoch wie in den Elendsquartieren anderer Kontinente. Hier leben sogar besonders viele Leute, die vorwärtskommen wollen, die vom Lande in die Stadt zogen, um etwas zu lernen und freier zu sein.

Lima ist eine herrliche Stadt. Mit ihren mehr als 2 Mio. Einwohnern ist sie die größte lateinamerikanische Metropole am Pazifik. Das Hotel Crillon könnte in Miami oder in Los Angeles stehen. Der Dachgarten, umgeben von riesigen schräggestellten Glasfenstern, öffnet den Blick auf die Lichter von ganz Lima zu Füßen. Auf der einen Seite dämmert der graue Pazifik, auf der anderen grüßt der silberne Kranz der Anden. Dort oben leben die Lamas und ihre kleinen Geschwister, die Alpakas. Dort oben liegt auch Macchu Piccu. Lima hat im Gegensatz zu den meisten südamerikanischen Städten ein lebhaftes Nachtleben. Obwohl auch hier elektri­sche Energie Mangelware ist, flimmern die Bar-Reklamen um die Wette.

Auf den Steinen des Trottoirs vor dem Hotel hocken, bis tief in die Nacht hinein, Bettler. Eine junge Indiofrau reicht ihrem Baby die Brust. Drei Jungen starren mit großen schwarzen Augen auf die Passanten, ein alter Mann, den man eher in einem indischen Elendsviertel vermuten würde, reckt die dünnen Arme unbeweglich wie ein Fakir in die Luft. Alle diese Wesen sind mit stinkenden Lumpen behangen. Mit seiner Ankunft in der Stadt gibt der Indio, auch was sein Äußeres betrifft, viele seiner Gewohnheiten auf, damit er nicht mehr als nötig auffällt. Er hört auf, Indio zu sein und zählt von nun an zum Stadtproletariat. Nur wenige Frauen hüllen ihr Kind in ein farbiges Rückentuch. Kein handgewebter Poncho verleiht mehr den Männern ein malerisches Aussehen. Beim Anblick schmutziger, tuberkulosekranker Kinder mögen wir unser Mitleid noch genießen, beim Erwachsenen jedoch ist Armut häßlich anzusehen. Die Barriada „San Pedro“ zählt zum Schlimmsten, was ich je gesehen habe. Finstere Blicke ringsum, unglaublich verhun­gerte Hunde. Unglaublich verwahrloste Kinder in unübersehbarer Zahl, Hütten aus Strohgeflecht und alten Kartonagen. Alle vom Wüstensand verweht und erdbraun gefärbt. Kein einziges Fenster. Die Leute kriechen durch Löcher hinein und heraus. Natürlich kein elektrisches Licht, Wasser nur an wenigen Zapfstellen, von denen es Frauen in Blechkanistern oft viele hundert Meter weit schleppen müssen. Aus verrosteten, vollkommen verdreckten kleinen Omnibussen ergießen sich Massen von zerlumpten Arbeitern, die irgendwo eine Beschäftigung gefunden haben und abends in ihre Barriada zurückkehren.“

Soweit also die Ausführungen Thilo Koches. Im weiteren Verlauf unserer (Bus-)“Rundfahrt“ werden die unfertig aussehenden Flachbauten der „pobles jovenes“ von höheren Gebäuden abgelöst - wir nähern uns dem Zentrum. Der Verkehr und die Menschenmengen nehmen bedrohlich zu. Im Zentrum steigen wir aus und finden schon bald das von uns angesteuerte Hotel „La Merced“, Wir müssen mit einem Vierbettzimmer vorliebnehmen, was uns aber nicht weiter stört, da es sauber und sehr billig ist. Und siehe da, wenig später steht ein Pärchen in der Zimmertür, das uns aus dem Flugzeug noch wohlbekannt ist. Zwar haben die beiden offensichtlich denselben Reiseführer im Gepäck (nämlich LösslsPeru-Bolivien“-Handbuch, das das „Merced“ als „Tip“ anpreist), doch haben sie sich einem teuren, dafür langsamen „Airport-Bus“ anvertraut und nicht - wie wir - dem spottbilligen Öffentlichen Bus.

Wir verstehen uns auf Anhieb und stellen bald fest, daß Reisevoraussetzungen und -pläne sehr ähnlich gelagert sind. Leise Zweifel an der Originalität und Individualität unserer Reise kommen mir, als wir feststellen, daß die beiden auch Lehrer sind (aus Essen), sie fast dieselbe Route nehmen wollen wie wir (wo ich zuvor doch so daran herumgetüftelt habe), sie dasselbe Reisebudget haben, dieselbe Zeit usw..

An der Plaza „San Martin", nahe unserem Hotel, beginnt eine erste Erkundungstour auf peruanischem Boden. Der koloniale Baustil der Spanier rund um den Platz ist unübersehbar. Eine schachbrettartige Aufteilung von Straßen und Gebäuden in quadratischem Blocksystem machen das Wiederfinden einer bestimmten Stelle ziemlich leicht. Erst im nahen Indioviertel drohen wir die Übersicht in dem Gewimmel von Menschen, Ständen und Autos zu verlieren. An den nebeneinander in Reih und Glied stehenden Schuhputzpodesten scheint das Geschäft zu florieren; auch die Galerie von Schreibmaschinenschreibern, die Maschinen auf einem Stand oder auf den Knien, kann offenbar über Mangel an Beschäftigung nicht klagen. Formulare und Schriftstöcke aller Art gibt es massenhaft auszufüllen.

Über die exotischen Anblicke dürfen wir nicht vergessen, daß Vorsicht geboten ist. Ein deutscher Tramper erbettelt sich von uns einen kleinen Geldbetrag, nachdem er erzählt hat, daß er völlig ausgeraubt worden sei und nun auf Geld aus Deutschland warte. Bis dahin muß er sich so durchschlagen. Die Sache erscheint uns glaubwürdig, da wir nicht zum ersten Mal von solchen Vorfällen hören. Bei all den vorab zu Ohren gekommenen Schauergeschichten kann einen eigentlich die nackte Angst packen. Da hilft halt nur: Augen auf und möglichst wenig Anreiz zum Klauen geben. Das ist der Preis für unser relatives „Reich-Sein“.

Gegen Abend nimmt das Gedränge in den von Abgasen verpesteten Straßen enorm zu. Asiatische Erinnerungen werden wach. Vor einem Luxushotel werden gerade die Schönheitsköniginnen verschiedener Länder unter starkem Polizeischutz und regem Interesse der Bevölkerung abgeholt. Wenig später sehen wir die Grazien in einer glitzernden Gala-Show zur „Miss-Universum-Wahl“ im Fernsehen unserer Herberge wieder. Der pompöse Aufwand ärgert mich, und mir fällt der Begriff vom „Opium fürs Volk" ein, ein Volk, das Brot sicher nötiger bräuchte als aufwendige Inszenierungen von Eitelkeiten.
Draußen hat es stark abgekühlt.

 

22.7. -  Donnerstag             Lima - Ica

Nach den Aufregungen des vergangenen Tages wollen wir es heu­te eigentlich gemächlich angehen lassen. Aber es soll wieder anders kommen.

Zunächst schreiben wir in Ruhe Tagebuch bzw. Postkarten, essen eine Kleinigkeit und begeben uns dann gegen Mittag zur „Roggero-Busstation, da wir beschlossen haben, gleich heute Lima den Rücken zu kehren. Gegen Ende der Reise werden wir ohnehin hier noch einige Tage verbringen. Somit kann also unsere Rundreise durch Süd-Peru und Bolivien beginnen.

Die Fahrt Richtung Ica führt auf der berühmten „Panamericana Sur", einer gut ausgebauten Küstenstraße, durch die „Costa" entlang dem Pazifischen Ozean. „Costa" wird der schmale Küstenstreifen genannt, der durch Wüstenlandschaft mit ver­einzelten Landwirtschaftszonen gekennzeichnet ist. In diesen Landwirtschaftszonen können wir Baumwollfelder sowie Mais- und Gemüsefelder erkennen, die z.T. künstlich bewässert werden. Faszinierend dann wieder der schroffe Übergang zur vollkommenen Sandwüste, in der nur selten ein Strauch zu sehen ist. Und die Ausläufer der Anden mit ihrem Formenreichtum drücken der Landschaft ihren unverwechselbaren Stempel auf.
Mitten in unsere Betrachtungen dringt ein explosionsartiger Knall; der Bus gerät ins Schlingern, und der Fahrer hat alle Mühe, das Lenkrad festzuhalten. Bei mindestens Tempo 80 rast das Fahrzeug einer Beinahe-Katastrophe entgegen. Frauen und Kinder schreien, dichter Qualm dringt in das Bus­innere, und instinktiv klammern wir uns an allem Greifbaren fest und hoffen auf die Künste des Fahrers. Dieser hat im wahrsten Sinn des Wortes alle Hände voll zu tun und bringt das Gefährt tatsächlich nach ca. 200 m auf der zum Glück schnurgeraden Straße zum Stehen.

Leicht benommen und mit klopfenden Herzen steigen wir aus und besehen uns die Misere. Genau bei km 268 südlich von Lima (wie Conni recherchiert) ist der rechte Vorderreifen geplatzt. Nun stehen wir mitten in der Wüste, Sand fliegt durch die Luft, und wir sehen zu, wie der Fahrer samt seinem Gehilfen den gewaltigen zerfetzten Reifen austauschen.

Nach einer Stunde Unterbrechung erreichen mir wenig später Ica. Im Ortsmittelpunkt an der „Plaza de Armas" (einen Platz mit diesem so militärisch klingenden Namen gibt es in jeder größeren Stadt Perus) geraten wir in einen Menschenauflauf. Hier feiert man lautstark ein offensichtlich marxistisches Studentenfest, das wir später nach unserer Hotelsuche noch einmal aufsuchen wollen.
Die Hotels, wenn man sie überhaupt so nennen kann, sind hier überwiegend schäbig und relativ teuer. Überhaupt stellen wir einen sprunghaften Preisanstieg für Übernachtung, Bus­fahren und Essen gegenüber den in den Reiseführern angegebenen Preisen fest.

 

23.7. -  Freitag           Ica – Arequipa

Eigentlich hatten wir vorgehabt, bis Nazca, etwa 100 km weiter zu fahren. Dort befindet sich das Zentrum jener be­rühmten Nazca-Kultur, die sich durch die „außergewöhnlichsten, geschicktesten Keramiken von einer technischen Perfektion und von unglaublicher Schönheit des präkolumbianischen Amerikas" auszeichnet (Prospekt-Jubeltext). Was uns aber noch mehr interessiert hatte, waren die außergewöhnlichen „Linien von Nazca", die man angeblich bei einem Rundflug gut erkennen kann. Riesige Zeichnungen von Tieren, Spiralen, Trapezen und Dreiecken werden dann mitten in der Wüste sichtbar.

Es hat viele Deutungsversuche zu diesem Phänomen gegeben. Am abenteuerlichsten ist mit Sicherheit der des Herrn von Däniken, der hier außerirdische Wesen am Werk gesehen haben möchte. Wahrscheinlicher ist, daß es sich um einen unglaublich ausgeklügelten astronomischen Kalender handelt, der mit oder ohne technische Hilfsmittel vor Jahrhunderten in den Sandsteinboden gescharrt worden ist. Da Conni und ich kürzlich einen Film im deutschen Fernsehen über diese Linien und das Schaffen der dort tätigen 77-jährigen Mathematikerin Maria Reiche gesehen haben und uns der Rundflug für 40 Dollar auch zu teuer ist, haben wir uns entschlossen, nur bis Ica zu fahren.

Ica ist nicht nur der berühmteste Weinort Perus, sondern bietet außerdem zwei sehenswerte Attraktionen. Die eine ist das „Regionale Museum" mit Funden aus der Nazca-Kultur, das wir am Vormittag besichtigen wollen. Am Nachmittag steht dann der Besuch einer Oase, 5 km vom Zentrum entfernt, auf unserem Programm.

Zunächst also das Museum, das hauptsächlich mit appetitlichen Mumien und phantasievoll verformten und aufgesägten Schädeln (Trepanationen) aus allen Epochen aufwartet.

Auf dem Weg zur Oase kehren wir schnell noch im Hotel de Turistas ein, wo wir uns an einem köstlichen „Pisco Sour", einer lokalen Spezialität aus Traubenschnaps, Eierschaum, Limone, Melasse und Angostura laben.
Leicht angesäuselt fahren wir anschließend in die nahe Wüste, bei deren Anblick uns richtige Sahara-Gefühle überkommen. Umgeben von hohen Sandbergen tut sich uns unvermutet eine ganz andere Welt auf: in idyllischer Lage präsentiert sich inmitten dieser unwirtlichen Umgebung die Oase Huacachina. Um den wegen neuangelegter Tiefbrunnen leider schon stark abgesunkenen See reihen sich einladende Gebäude und eine Pro­menade in etwas zu protzigem Kolonialstil.

Ich lasse es mir nicht nehmen, auf den Gipfel eines der mächtigen Sandberge zu klettern und von dort oben die ungewöhnliche Aussicht auf ein ungewöhnliches Naturphänomen und die brütende Wüstensonne zu genießen. Zu unserem Leidwesen setzt sich der ganz feine Sand in alle nur erdenklichen Ritzen, so daß es selbst beim Schreiben dieser Zeilen noch rieselt und knirscht.
Um sechs Uhr abends soll unser Bus Richtung Arequipa starten, was sich aber aus unerfindlichen Gründen um zweieinhalb Stunden verzögert. Während des schier endlosen Wartens werden wir immer wieder Zielscheibe für vorbeiziehende Schüler und Studenten, die meisten in Uniform. Neugierig fassen sie uns an oder fragen kichernd nach der Zeit, sicher um ihre Englischkenntnisse an den Mann zu bringen. Endlich sitzen wir im überbesetzten Bus, der uns in zwölf Stunden in die 700 km entfernte Stadt Arequipa ganz im Süden Perus bringen soll. Schade, daß es dunkel ist und wir die zerklüftete Landschaft entlang des Pazifik nur erahnen können.


24.7. –  Samstag

Als wir um acht Uhr in der 2400 m hochgelegenen „Weißen Stadt" ankommen, ist auf den Straßen schon der Teufel los: Überall herrscht hektisches Markttreiben. So müssen wir längere Zeit nach einer akzeptablen Unterkunft fahnden, bis wir endlich eine preiswerte (3000 Soles = 11 DM fürs Doppelzimmer) und vor allem freundliche Pension etwas abseits entdecken. Diese wird von einer netten, rundlichen Wirtin geführt, die ganz stolz auf frühere Gäste aus deutschen Landen in ihrem Gästebuch hinweist. Zeit zum Duschen, Wäschewaschen und Ausschlafen.
Am Spätnachmittag bekommen wir während eines ersten Rund­gangs noch etwas von dem angenehmen Klima und den Schönheiten dieser drittgrößten Stadt Perus mit. In einem „Chifa“, einem jener chinesisch-kreolischen Restaurants, stärken wir uns nach den Strapazen der vergangenen Nacht.
Es macht Spaß, in der schachbrettartig angelegten Stadt die quirligen Geschäftsstraßen auf und ab zu gehen. Uns fällt auf, daß der Anteil dunkelhäutigerer Indios gegenüber Lima und dem mehr von Weißen bewohnten Küstentiefland hier deutlich größer ist. Schließlich sind wir auch bereits in das andine Hochland vorgedrungen, der eigentlichen Heimat der indianischen Urbevölkerung. Insgesamt geht man davon aus, daß heute ca. 50% der perua­nischen Bevölkerung Indios, 40% Mestizen, also Mischlinge aus Rot und Weiß, und ca. 10% Kreolen, d.h. weiße Abkömm­linge der spanischen Kolonisten sind.

Gemeinsam mit Weiß, Rot und Gemischt finden wir uns am späten Abend in einem Luxuskino ein, wo wir uns für ein paar Soles den brutalen und absurden Mammutschinken „Conan, der Barbar" zu Gemüte führen.

 

25.7. -  Sonntag
Zum ersten Mal auf dieser Reise ziehen wir nicht rastlos weiter, sondern verweilen noch bis einschließlich morgen in dieser Stadt voller Atmosphäre. Ihr weißes Gesicht verdankt die Stadt dem Sillur-Tuff, einem hier vorkommenden vulkanischen Eruptivgestein. Die hellen Bauten wirken freundlich und warm. Ein weiterer Vorteil des Gesteins ist der, daß es einerseits leicht zu verarbeiten und entsprechend kunstvoll ornamentiert ist und zum andern die enorme Standfestigkeit und Solidität. So haben Kirchen und Klöster mehrere Erdbeben weitgehend unversehrt überstanden. Bei einem Stadtrundgang können wir uns davon überzeugen.

Als wir das berühmte Santa Catalina Kloster aus dem 16.Jahrhundert besichtigen wollen, ziehen wir allerdings grollend wieder von dannen, da der Eintritt für „Gringos", also für Nicht-Einheimische, 1300 Soles = fast 5 DM pro Person kostet, was wir gegenüber den üblichen Preisen als schlichte Unverschämtheit empfinden.

Beim Stichwort „Gringo" plagen uns böse Vorahnungen, da wir – wie es aussieht - von nun an wahrscheinlich ständig auf Traveller, wie wir es sind, stoßen werden, zumal wir uns den Globetrotter-Zentren Puno, La Paz und Cuzco nähern. Einen Vorgeschmack darauf be­kommen wir jedenfalls schon hier in Arequipa.

In einem Park etwas oberhalb der Stadt geraten wir in eine „Kermess Vegetarian", eine Vergnügungsveranstaltung, hinter deren Bedeutung wir nicht ganz steigen. Man führt Spiele aller Art durch, junge Leute bieten uns vegetarische Schleckereien zum Kauf an, blecherne Musik dröhnt aus den Lautsprechern, und wir liegen faul in der Sonntag-Nachmittag-Sonne. Zwischendurch nutzt Conni die Gunst der Stunde und verschwindet (wieder einmal) auf der (sauberen!) Toilette des Hotel de Turistas.

Im Hintergrund thront majestätisch „El Misti“, der 5830 m hohe „Hausvulkan" Arequipas, der in seiner an den Vesuv erinnernden Form eigentlich ganz friedlich und zahm wirkt.

Am späten Nachmittag statten wir, wieder im Ortskern angelangt, der Sakristei der Kirche „La Compania" einen Besuch ab. Erst 1950 wurde sie zur allgemeinen Überraschung durch ein Erdbeben freigelegt und zeigt heute einen Kuppelbau mit eindrucksvollen indianischen Fresken. Zwischendurch halten wir mit ein paar Deutschen ein Schwätzchen und beschließen dann den wie immer viel zu kurzen Tag mit einem Rommée-Marathon in unserer Pension.

 

26.7. –  Montag
Daß die Bewohner Perus nicht von sehr großem Wuchs sind, kann man in direktem Vergleich Gringo - Einheimischer unschwer erkennen. Die Durchschnittsgröße heute beträgt nur 1,55 m, während die Inkas aufgrund einer vielseitigeren Ernährung zu ihrer Zeit noch 1,75 m im Durchschnitt maßen. Daß als Folge dieses Schrumpfungsprozesses die hiesigen Betten nur 1,8O m lang sind, ist für unsereinen denn doch schon ein Problem. Nie weiß man so recht, wohin mit den sperrigen Gliedern, und so muß ich meinem Spitznamen „Yogi" aus fernen Schülerzeiten alle Ehre machen...
Arequipa bedeutet auf Quechuan, der wieder an Bedeutung gewinnenden Sprache der meisten Indios, „hier bleiben", was sich auf den günstigen Siedlungsplatz und das milde Klima bezog (hier scheint an 360 Tagen im Jahr die Sonne). Daß der Name auch für uns Bedeutung erlangt, stellt sich heute nach endlosen Versuchen, eine Fahrmöglichkeit nach Puno zu bekommen, heraus. Tagsüber gibt es keinen Bus, der Zug fährt erst am Mittwoch wieder, und die Collectivos sind zu teuer. Die alternative Tour über Arica in Chile erscheint uns zu ungewiß und auch zu kostspielig.

Somit sind also die Würfel gefallen: wir bleiben noch einen Tag.

Diesen Entschluß brauchen wir bestimmt nicht zu bereuen, denn es gibt noch genug an Schönem hier zu entdecken. Wir entfernen uns vom geschäftigen Treiben der Innenstadt und unternehmen eine kleine Wanderung durch Yanahuara, einem Wohnvorort von Arequipa. Nachdem wir eine Anhöhe erklommen haben, können wir einen wunderbaren Rundblick über die Stadt mit den umliegenden Bergen und Vulkankegeln bei feu­rigem Abendrot genießen. Bei unserem Rückmarsch staunen wir nicht schlecht über die z.T. luxuriösen Bungalows, die unseren Weg säumen. Wenn auch an anderen Stellen der Stadt die Armut unübersehbar ist, so kann man doch insgesamt da­von ausgehen, daß Arequipa sicher zu den wohlhabenderen Orten Perus zählt, was sich in dem äußeren Erscheinungsbild deutlich widerspiegelt.

Im Zentrum herrscht am Abend ein überschäumender Trubel. Menschenmengen und Autokarawanen schieben sich durch die Straßen. Von überall her dringt dröhnende Musik; in allen Lokalen laufen wie üblich die Fernseher, so auch in unserem „Bavaria", wo wir ein komplettes Menü für umgerechnet 3,50 DM zu uns nehmen. Eine bayerische Landschaft und ein Schuh­plattler-Ensemble auf der Hauptwand des Lokals sorgen für eine „echt peruanische" Atmosphäre. Im nahegelegenen Theater wohnen mir mehr aus Zufall einer Ballettaufführung der Universität bei. Gezeigt werden folkloristische Tänze in schönen bunten Trachten. Der Eintritt ist frei; doch lange halten wir es nicht aus, da es ziemlich zieht und wir beide uns ziemlich angeschlagen fühlen.


27.7. –  Dienstag

Heute und in den kommenden zwei Tagen wird der Nationalfeiertag begangen. Gefeiert wird die Unabhängigkeit von den spanischen Kolonialherren, die von 1533 bis 1821 hier herrschten und die erst in einer knappen Entscheidungsschlacht von Simon Bolivar, dem großen südamerikanischen Freiheitskämpfer, geschlagen wurden. Viele Häuser sind mit Flaggen geschmückt.

Wir machen uns auf, die beste Gelegenheit zur weiteren Erkundung der Umgebung zu ergreifen, indem wir uns einfach in einen der vorbeifahrenden Busse schwingen. Ziel ist der Vorort Tingo, wo es laut Reiseführer einige Bäder und Freizeitanlagen geben soll. Unsere Suche endet zunächst auf einer wilden Müllkippe, die uns schnellstens zum Umkehren bewegt. Der spanischen Ausspracheregeln noch nicht ganz mächtig finde ich bald den Grund für unseren „Irrweg" heraus:

Statt „lago" (See) so auszusprechen, wie es geschrieben wird, hatte ich eine Indio-Frau immer nach „lacho" befragt, was es aber im Spanischen nicht gibt, so daß sie uns sicherheitshalber erst mal in Richtung Müllkippe geschickt hat... Eine weitere Busfahrt durch staubiges Gelände bringt uns dann doch noch an unser Ziel, das sich allerdings recht bescheiden ausnimmt.

Interessanter ist da schon das „Collegio Max Uhle", eine deutsche Schule, vor deren Toren wir nach wenigen hundert Metern stehen. Das Haupttor ist nicht verschlossen, so daß wir das Schulgelände betreten können. Alles sieht wie ausgestorben aus, bis uns ein paar Angestellte freundlich ansprechen und uns die Adresse eines deutschen Lehrers in Arequipa in die Hand drücken. Es sind Ferien. Uns wundert etwas, daß auf einer Namensliste der Schüler nur einheimische und keine deutschen Namen vertreten sind.

Zurück in Arequipa schließen wir uns um halb vier einer lange Schlange vor dem Bahnhof an in der Hoffnung, zwei der begehrten Tickets nach Puno für den morgigen Tag zu ergattern. Das Warten und Zittern dauert eine Stunde, und endlich halten wir nach einigem Hin und Her die begehrten Scheine trium­phierend in unseren Händen.

Schon wenig später allerdings reicht das Triumphgefühl dem tiefer Bestürzung, als wir im Fotoladen unser 1,4er Objektiv für die Spiegelreflexkamera abholen. Wegen einer dummen Unachtsamkeit war in der Oase bei Ica Sand in das Objektiv gelangt, was uns nun die Kleinigkeit von 19000 Soles oder knapp 70 DM kostet. Bei unserer sparsamen Art zu reisen, ist dieser Schock nicht ganz leicht wegzustecken. So sind wir heute Abend im doppelten Sinn des Wortes verschnupft. Ein Feuerwerk und mächtig Remmi-Demmi auf der hell angestrahlten Plaza de Armas stimmen uns dann wieder versöhnlicher. Als einem Kometen gleich direkt neben uns ein noch brennender Feuerwerkskörper herniederkommt, sehen wir doch bald zu, daß wir hier wegkommen.

 

28.7. -  Mittwoch               Arequipa - Puno

Daß Peru 15 Mal größer ist als die Bundesrepublik, jedoch nur 15 Mio. Einwohner hat, können wir beim Durchfahren der endlosen Sierra, dem peruanischen Hochland, in etwa erahnen. Über weite Strecken trostloses, karges Land; nur gelegentlich sind einzelne Steinhäuser oder kleine Ansiedlungen zu erkennen. Wir befinden uns auf der Fahrt von Arequipa nach Puno.

Pünktlich um halb zehn ging's los durch laut Reiseführer eine der schönsten und interessantesten Strecken von Peru. Dieses hat sich anscheinend herumgesprochen: Außer uns befinden sich neben vielen Deutschen und Franzosen Amerikaner, Engländer, Finnen (z.T. ganze Familien) und sogar einige Einheimische im Zug, so daß man schon von einem echten Treck in diesem Fall gen Osten sprechen kann. Uns gegenüber sitzt ein junger Schweizer, der bereits seit vier Monaten kreuz und quer durch Südamerika unterwegs ist. Beneidenswert, zumal er in dieser Zeit blendend Spanisch sprechen gelernt hat. Unsere Unterhaltungen sind so kurzweilig und anregend, daß der Gesprächsstoff sicher für mehre Bahnfahrten ausreichen würde.

Zwischendurch müssen mir unseren peruanischen Nachbarn mehr­mals in seiner Ruhe stören, dann nämlich, wenn wir wie auf­geschreckte Hühner aufspringen, um eines der vielen herrlichen Landschaftsmotive auf Zelluloid zu bannen.

Überhaupt hält es uns kaum auf den Plätzen, und so betätigen mir uns immer wieder als Trittbrettfahrer, indem wir einfach bei offener Waggontür auf dem Trittbrett sitzen oder stehen und die Fahrt sozusagen „open air" genießen. Durch die Sonne ist es noch warm, jedoch merken wir am kalten Fahrtwind, daß wir uns dem höchsten Punkt auf dieser Strecke in 4490 m nähern.

Während eben noch Krüppelgewächse und Kakteen zu sehen waren, bestimmen nun weidende Lamaherden und stacheliges Punagras das Landschaftsbild, wir haben die Höhenstufe der „Puna" Bald schon ist eine große Lagune in Sicht, um die herum sich der Zug lange schlängelt und die mit ihrem satten Blau und den z.T. schneebedeckten Bergen im Hintergrund einen wunderbaren Anblick darstellt.

Immer schneller wird die Fahrt, immer seltener taucht der Mann mit der Sauerstoffmaske auf, der den Passagieren helfen soll, die von „Soroche“, der berüchtigten Höhenkrankheit geplagt werden. Im Gegensatz zu anderen Reisenden merken mir noch nichts - trotz der ungewöhnlichen Höhe. Endlich erreichen mir Juliaca, die letzte Station vor Puno. Es ist schon dunkel, und draußen wird uns ganz schön kalt. Trotz tropischer Breiten soll es hier in dieser Höhe manchmal bis zu -10°C kalt werden. Um die lange Zeit des Wartens auf die Weiterfahrt zu überbrücken, vertreten mir uns auf dem Bahnsteig die Beine und lassen uns dabei blenden von Alpaca-Pullovern, Wandteppichen, Mützen, Handschuhen usw. Indio-Frauen bedrängen uns heftig, reden auf uns ein, und schon sind wir mitten im Feilschen um zwei Alpaca-Pullover. Alle Frauen versuchen, sich mit Sprüchen wie „es bonito, es barata, es muy grande" und vor allem mit „es puro Alpaca“ (schön, billig, sehr groß und echt Alpaca) gegenseitig zu übertrumpfen. Wenig später sind wir für umgerechnet 20 DM im Besitz der wärmenden Muß-Andenken, die ein jeder Reisender quasi als Aushängeschild für die hinter sich gebrachte Peru-Fahrt besitzen und vorzeigen muß. Weniger wegen des gelungenen Handels als vielmehr wegen der extremen Höhenlage wird es mir nun doch noch etwas schwindelig.

Um acht Uhr kommen wir in Puno am Titicacasee in 3830 m Höhe an.

Da wegen der vielen Traveller, die hier täglich ankommen, die Hotelsituation schwierig werden kann, bietet sich uns nun ein groteskes Bild: wie ein aufgeschreckter Heuschreckenschwarm quält sich die Menge der Reisenden durch das enge Bahnhofs­tor und schwärmt dann eilig in Richtung Innenstadt aus. Dabei behält man natürlich das teure Gepäck wegen der angeblich vielen Diebe sorgsam im Visier und umklammert die schützende Taschenlampe, da pechschwarze Nacht herrscht. Wir verhalten uns nicht anders und bekommen zusammen mit Markus, dem urigen Schweizer, mit Glück ein Dreibettzimmer im „Europa".

Nach kurzer Verschnaufpause sitzen wir bald darauf in einem abgelegenen Lokal, nehmen ein einfaches und billiges Mahl zu uns ("trucha" = Forellen aus dem Titicacasee sind heute leider nicht zu haben) und trinken erstmals Coca-Tee, ein mit Cocablättern zubereitetes Getränk. Bei meinem Versuch, durch Herumkauen auf den Blättern den Indios gleich ein Rauschgefühl herbeizuführen und die Strapazen des Tages zu vergessen, habe ich wenig Erfolg.

Markus wird uns morgen wieder verlassen, um schnell über La Paz nach Brasilien weiterzureisen.

 

29.7. -  Donnerstag               PunoTaquile
Es ist denkbar, daß noch vor drei, vier Jahren ein Ausflug zur Insel Taquile sehr abenteuerlich gewesen ist - so jedenfalls ist es in einem Artikel in der „Zeit" im Jahre 79  be­schrieben. Heute ist es zumindest noch ein aufregendes Erlebnis.

Um halb zehn geht die Fahrt in einem vollbesetzten kleinen Motorboot los. Vorbei an einem gesunkenen Schiff, dessen Heck aus dem Wasser ragt, an einsamen Fischern in Schilfbooten vorbei durch sauberes, tiefblaues und nur etwa 100 C  kaltes Wasser führt uns die Exkursion über dreieinhalb Stunden zu der 24 km entfernten Insel.

Außer uns sind noch etwa 6 Passagiere mit Rucksäcken an Bord die wie wir die Nacht dort verbringen und nicht nur in einer Stunde über die Insel jagen wollen. Dazu zählt auch ein japanisches Pärchen, das unermüdlich versucht, einigen mitfahrenden Indios das Nagasaki-Lied auf Japanisch beizubringen. Auch ein älteres amerikanisches Ehepaar, das wir im Verlaufe unseres Inselaufenthaltes immer wieder treffen und für das ich ein bißchen Dolmetscher spiele, will die Nacht auf dem Eiland verbringen. Außer „gracias" sprechen sie, glaub' ich, kein Wort Spanisch, und ich wundere mich, wie blauäugig und ohne Sprach- oder Kulturkenntnisse manche Amis in die Ferne fahren und darauf hoffen, daß sich alles von selbst regelt.

Nach unserer Ankunft müssen wir erst mal kräftig klettern. Scheinbar unendlich lange dauert der anstrengende Aufstieg, nachdem wir an einer improvisierten Passierstelle registriert worden sind und man uns einen Patron für die Nacht zugewiesen hat. Endlich erreichen mir das „pueblo", das kleine Dorf. Wir haben offenbar großes Glück, denn hier wird gerade ein Hei­ligenfest (zu Ehren des St. Jakob) gefeiert, das uns gleich in seinen Bann zieht. Just bei unserem Erscheinen setzt sich eine Tanzgruppe auf dem staubigen Dorfplatz in Bewegung und vollführt ein Spektakel ganz eigentümlicher Art:

Männer in bunten Trachten mit einem Kopfschmuck aus Federn, an denen Spiegel befestigt sind (um böse Geister zu vertreiben!) umkreisen einige in Gegenrichtung laufende Frauen in schlichten rot-schwarzen Gewändern und einen schwarzgekleideten Trommler. Lange Perlenschnüre verdecken die Gesichter der Männer. Während die Frauen alle barfüßig sind, tragen die Männer Gummisandalen aus zugeschnittenen Autoreifen. Auf langen Flöten wird ununterbrochen eine eintönige, aber rhythmische und eingängige Melodie gespielt. Dieser rituelle Vorgang, dessen Sinn wir nicht erfassen können, wiederholt sich an verschiedenen Stellen des Platzes mit kleinen Variationen immer von Neuem.

Natürlich sind wir nicht die einzigen Zuschauer. Wir empfinden es als beschämend, wie sich manche Fotojäger direkt vor einige verunsichert lächelnde Inselbewohner postieren, um ihr „einmaliges Eingeborenenfoto“ in Kasten zu bekommen. Den Vogel schießt allerdings ein Typ ab, der mit einem Walkman in der Hand, den Kopfhörer übergestülpt, tänzelnd über die Plaza wippt.
Um den Platz herum sind überall Stände aufgebaut, an denen unheimlich diffizil gearbeitete Wollprodukte, wie Mützen, Jacken und Hemden zum Verkauf angeboten werden. Erst bei näherem Betrachten der kleinwüchsigen, scheinbar immer freundlichen Menschen hier fällt uns ein Phänomen auf, das einen glauben macht, man befinde sich in einem Märchenland:
wo man auch hinsieht, sitzen oder stehen Männer in ihrem Festtagsstaat und stricken, stricken, stricken ... Während die meisten Frauen nur herumsitzen oder spinnen, fertigen die Männer und auch schon kleine Jungen in Windeseile wahre Meisterwerke in Sachen Stricken an. Es ist richtig fesselnd, ihnen zuzusehen.


So verweilen wir eine Zeit und folgen dann wieder unserem zugewiesenen Führer zu unserem heutigen Domizil. Dieses liegt so ziemlich am höchsten Punkt der Insel, so daß Conni japsend (wir sind immerhin ca. 4000 m hoch) zwischendurch ihren Rucksack an unseren Hausherrn übergibt, welcher diesen dann die letzten Meter hochschleppt. Von unserem schlichten Lehmhaus aus hat man einen schönen Rundblick über die gesamte Insel. Weniger attraktiv ist unsere Schlafkammer, die mehr einer Höhle gleicht. Auf zwei Steinliegen sind Strohmatten ausgelegt, die uns als Betten dienen sollen. Fenster gibt es nicht. Auch kein Wasser oder Strom, geschweige denn Toiletten. Wohin die Einheimischen ihre Geschäfte machen, ist uns bis zum Schluß ein Rätsel geblieben. Aber eigentlich sind wir ganz froh, den Segnungen der Zivilisation so fern zu sein. Nur der obligate Cassettenrecorder fehlt auch hier nicht.

Am Nachmittag machen wir uns auf, die wunderbare Inselwelt zu erkunden, Während uns bei der Ankunft die Insel etwas schroff und ausladend vorgekommen ist, so spüren wir spätestens jetzt den ihr eigenen Charme. Neben kargen Feldern mit spärlichem Bewuchs trifft man auf Schafe, vereinzelte Steinhäuser, Unmengen geschickt angelegter Steinwälle und dazwischen ein paar präkolumbianische Kult-Monumente.
Ein herrlicher Sonnenuntergang im Titicacasee, die Ruhe und die wunderbare Landschaft machen unser Glück vollkommen. Manchmal tauchen Kinder auf, denen wir Kaugummi und anscheinend heißbegehrte Sicherheitsnadeln schenken. Es wird wie üblich sehr schnell dunkel, und wir erreichen bald unsere Hütte.
Dort kommen wir mit unserem „Zimmer"-Vermieter ins Gespräch, wenn man den Austausch von einigen Sprachbrocken und hilflosen Gesten als solches bezeichnen kann. Immerhin bekommen wir spitz, daß er auf Connis (Woolworth-) Armbanduhr, die eigentlich meine ist, richtig scharf ist. Seine Beteuerungen „me gusta, me gusta“ (die gefällt mir) steigern sich zu einem weinerlichen Drängen, dem ich kaum noch widerstehen kann. Als ich erfahren muß, daß er nie wisse, wann das Touristenboot ankommt und ihm so mögliche Einnahmen verloren gingen, kann ich nicht mehr. Was er uns denn anzubieten habe, frage ich vorsichtig. Geschwind ist eine selbstgestrickte Mütze herbeigezaubert, die stark einer bunten Kasperle-Mütze ähnelt, aber mit feinen Mustern durchsetzt ist. Natürlich paßt sie weder Conni noch mir, doch wir machen den Handel perfekt in der Hoffnung, daß die Batterie meiner mir verbliebenen Armbanduhr bis zum Schluß hält. Außerdem gibt's auch noch ein zwar spartanisches, dafür aber kostenloses Abendessen. Die Übernachtungskosten für das „Doppelzimmer" von 1000 Soles = 3,60 DM waren vorher schon festgesetzt worden. In mir macht sich das Gefühl breit, einen winzigen, wenn auch vielleicht überflüssigen Beitrag zur Entwicklungshilfe geleistet zu haben.

 

30.7. -  Freitag              Taquile - Puno

Kalt war die Nacht, und nach einem Frühstück mit Tortillas und Eukalyptustee wärmen wir uns in der Sonne wieder auf. Die Insel ist bei genauerer Betrachtung kleiner als gedacht. Ein friedlicher Spaziergang über Felder und zahllose Steinwälle gestaltet sich zu einem längeren Marsch, in dessen Verlauf wir wiederholt um die begehrten Sicherheitsnadeln gebeten werden. Die Neuigkeit scheint unter den 940 Inselbewohnern rasch herumgekommen zu sein.

In etwa eineinhalb Stunden ist die Insel umrundet, und wir müssen schon wieder an die Rückfahrt denken.

So erreichen wir das Festland bereits am späten Nachmittag bei hereinbrechender Dunkelheit. (Später erfahren wir, daß wenige Tage nach unserer Fahrt auf dem Titicacasee ein ebenfalls mit Touristen beladenes Boot aus nicht bekannten Gründen gekentert ist. Dabei sollen drei Insassen ums Leben gekommen sein.) Den Abend verbringe ich damit zu versuchen, an allen erdenklichen Stellen von Puno unsere vermaledeiten Traveller-Schecks einzulösen. Kleine „Hilfsarbeiter", die sich ein paar Soles verdienen wollen, sind mir dabei behilflich, doch schaffen auch sie es nicht, daß meine Scheck-Dollars irgendeinen Abnehmer finden. Hier legt man Wert auf Bar-Dollars, und die besitzen wir ja leider nicht.
So sitzen Conni und ich ratlos in unserem Hotelzimmer und fluchen leise vor uns hin, da wir vorhin noch einige Soles für völlig überflüssigen Käse und Rum ausgegeben haben. Und nun sind wir fast pleite und unsere Weiterfahrt nach La Paz gefährdet. Die Banken werden morgen am Samstag geschlossen bleiben. Doch unser Schutzengel läßt nicht lange auf sich warten: Auf dem Weg zur Toilette begegnet mir auf dem Flur nur zwei Zimmer weiter unser Essener Lehrerpaar, mit dem wir vor zehn Tagen in Lima zusammen ein Vierbettzimmer bewohnt haben. Nach ausführlichem Erfahrungsaustausch kommen wir zum Punkt: das liebe Geld. Kurzerhand zückt der Herr Lehrer einen 500 Soles-Schein, der unser morgiges Vorhaben retten könnte. Wiedertreffen werden wir uns ja sowieso ...

 

 

31.7. –  Samstag           Puno - La Paz

Wegen der Ungewißheit, ob wir unser Tagesziel La Paz erreichen werden oder nicht, habe ich schlecht geschlafen. Etwas zerknittert sind wir schon früh auf den Beinen, nachdem wir unseren kleinen Helfern von gestern Abend mitgeteilt haben, daß wir den um sieben Uhr startenden Durchbus bis La Paz wegen unserer unsicheren Finanzlage nicht nehmen können. Nähmen wir diesen Bus, hätten wir keinen einzigen Sol mehr in der Tasche, und angeblich verlangt man bei Eintritt nach Bolivien eine Grenzüberschreitungsgebühr. Weitere Versuche, irgendwo in dieser Stadt Schecks einzutauschen, bleiben ohne Erfolg. Und ob man an der Grenze Bargeld für Schecks bekommt, ist auch nicht zu erfahren.

An einer Busstation, von wo die primitiven Indiobusse Richtung Grenze fahren, treffen wir zu unserer großen Freude zwei Österreicher, die wir gestern auf Taquile kennengelernt haben, wieder. Vielleicht können die beiden uns weiterhelfen, wenn Not am Mann ist. Wir holen schnell unsere Rucksäcke und besteigen dann einen Bus nach Yunguyo an der peruanisch-bolivianischen Grenze. Zunächst verläuft die Fahrt gemächlich auf geteerter Straße mit schönen Ausblicken auf den Titicacasee, vorbei an Feldern, an Bündeln getrockneten Schilfs und einem Tiermarkt, wo Rinder, Schafe und Lamas gehandelt werden. Ganz abrupt endet plötzlich die Teerstraße, die nun in eine unglaubliche Holperstraße mündet. Für uns, die wir ganz hinten sitzen, wird's von nun an zu einer echten Marterstrecke, die alle Asien-Erfahrungen in den Schatten stellt. Hoffentlich sind keine schwangeren Frauen im Bus!
Zwei Stunden dauert die Ganz-Körper-Massage für die 30 km, und endlich sind wir in Yunguyo. Schnell werden noch die letzten Soles bei einem der uns schon erwartenden Schwarztauscher in bolivianische Pesos umgetauscht. Dann noch meinen 20 Dollar-Scheck in letzter Minute einem Gauner wieder entrissen, der uns mit einem „Superkurs“ reinlegen wollte, und rein in den nächsten Bus nach Copacabana. Die Grenzformalitäten sind relativ schnell erledigt, wenn auch einer der beiden Österreicher eigentlich Österreich-Peruaner ist, fast noch in Schwierigkeiten gekommen wäre. Ein Geldschein regelt die Angelegenheit.

Wenig später erreichen wir Copacabana, den sehr reizvollen ersten Ort auf bolivianischer Seite. Hier werden wir auf unserer Rückfahrt von La Paz noch Station machen. Leider gibt es keinen Anschlußbus mehr nach La Paz, so daß die beiden Österreicher und wir ein Taxi in die Hauptstadt chartern. Die Kosten für die 150 km lange Fahrt sind äußerst gering, wenn uns auch einer der beiden Studenten erwartungsgemäß etwas vorstrecken muß. Für die zwar etwas umständliche, dafür aber umso abwechslungsreichere Fahrt von Puno nach La Paz müssen wir somit insgesamt nur ca. 14 DM pro Person berappen, während es bei „Transtourin", einer überregionalen Busgesellschaft, immerhin 50 DM gekostet hätte.

 

Die Taxifahrt von Copacabana nach La Paz gehört zu dem Schönsten, was ich an Landschaftlichem bisher kennengelernt habe. Unglaubliche Ausblicke auf den Titicacasee, der mit seinen 194 km Ausdehnung der höchste schiffbare See der Welt ist und der uns unendlich groß erscheint, paaren sich mit herrlichen Aussichten auf die Königskordilleren mit ihren schneebedeckten Sechstausendern. Nachdem wir per Fähre die Halbinsel hinter uns gelassen haben, erreichen wir bald die unverwechselbare Anden-Hochebene, das „Altiplano". Die Landschaft hier ist geprägt von einer fast vegetationslosen, bräunlichen Fläche, die meist tischeben ist.
Der Taxifahrer erzählt von einem möglichen Generalstreik für die kommenden Woche, falls die Militärregierung nicht zurücktritt. Keine guten Nachrichten für uns, da wir unter Umständen in die Bredouille geraten könnten: Ausgangssperre, evtl. Ausreiseverbot oder vielleicht sogar ein Putsch, was in Bolivien ja keineswegs eine Seltenheit ist.

Kurz nach Sonnenuntergang sehen wir La Paz vor uns, Ein wunderbares Lichtermeer breitet sich zu unseren Füßen aus Der höchste Punkt von La Paz befindet sich in 4100 m, der niedrigste in 3100 m Höhe. Wir finden bald ein preiswertes Hotel und versuchen nun erneut unser Glück mit Geld- bzw. Scheckwechseln.

Auf einen Tip unseres Hoteliers hin treffen wir in der Calle Camacho auch schon bald auf Schwarztauscher, die sogar auf Schecks scharf zu sein scheinen. So tauschen wir unmittelbar vor den Augen der Polizei zu einem unglaublichen Kurs 50 Dollar und bekommen pro Dollar 150 Pesos; der offizielle Kurs soll vor noch wenigen Monaten 1:40 und weniger betragen haben. Endlich wieder Bargeld im Portemonnaie! Kurz darauf nutzen wir die Gunst der Stunde und begeben uns auf Anraten zweier Französinnen aus unserem Hotel in eine „peña“, einem Typ von Lokal, das auf einheimische Folkore spezialisiert ist. So sitzen wir bis kurz nach Mitternacht mit den beiden Österreichern, die für meinen Geschmack etwas zu großkotzig sind, unter einer ganzen Anzahl anderer Traveller bei faszinierender Indiomusik und abwechselnden Tänzen. Typische Instrumente sind Queňa-Flöten, die bei uns als Panflöten bekannt sind, Charangos, kleine 10-saitige Mandolineninstrumente mit Bäuchen aus Gürteltierpanzern, sowie verschiedene Schlaginstrumente Es war ein langer Tag, und am Schluß der Vorstellung fallen mir vor Müdigkeit die Augen zu.

Einige Informationen zu Bolivien und La Paz: Die Gesamt-Einwohnerzahl des zweitärmsten Landes in Lateinamerika (das ärmste ist Haiti) beträgt knapp sechs Mio., von denen 70% Indios, 25% Mestizen und 5% Kreolen sind. Die Landesfläche ist etwa viereinhalb Mal größer als die der BRD, wobei im tropischen Tiefland, in den Yungas, die Besiedlung extrem dünn ist. Bolivien träumt seit geraumer Zeit von einem Zugang zum Meer, den es einst im sog. Salpeterkrieg vor gut hundert Jahren an Chile verloren hat.
La Paz, wie Lima ein Magnet für die überwiegend unter dem Existenzminimum lebende Landbevölkerung, ist mit 800 000 Einwohnern die mit Abstand größte Stadt Boliviens. Über die sich unfreiwillig ablösenden Militärdiktaturen gibt es wenig Rühmliches zu berichten. Man kennt kaum den Namen des momentan regierenden Präsidenten. Vor zwei Jahren hat es hier demokratische Wahlen gegeben, aus der ein linksliberaler Politiker als Sieger hervorging. Nach Sitte der Diktaturen hat man sich einen Dreck darum gekümmert, und der rechtmäßige Präsident darf auch weiterhin im Ausland im Exil auf einen Wechsel hoffen. Zu La Paz wäre noch anzumerken, daß es die höchste Hauptstadt der Welt ist, die 1548 wegen der im Altiplano tiefeingeschnittenen günstigen Kessellage von den Spaniern gegründet worden ist.

 

1.8. -  Sonntag

Vom großen Anteil der Indios an der Gesamtbevölkerung war eben die Rede, und im Indioviertel schlagen wir heute auch unsere Zelte auf; genaugenommen im Hotel Panamericano, das schon zur besseren Hotelkategorie zählt. Wir befinden uns nämlich im Peso-Rausch: Nachdem wir diesen sagenhaft günstigen Dollarkurs bekommen haben, kostet uns gegenüber dem früheren Kurs alles nur noch ein Fünftel. So bezahlen wir z.B. für unser neues, komfortableres Hotelzimmer (mit eigener Dusche!) lediglich umgerechnet 10 statt 50 DM. Und in diesem Verhältnis geht es beim Essen, Busfahren, Kino etc. weiter. Woher dieser Kursverfall rührt, wissen wir nicht - vielleicht hängt es mit der neuerlichen Regierungskrise zusammen. Auf alle Fälle hat man hier und heute auf Schritt und Tritt die Präsenz von bewaffnetem Militär vor Augen (vielleicht als Machtdemonstration?).

Unser erster Erkundungsgang durch die in ihrem äußeren Erscheinungsbild mit Wolkenkratzern in der Mitte und endlosen Armenvierteln an den Hängen an Caracas erinnernde Stadt führt zunächst durch ein riesiges Indioviertel. Bis hoch hinauf ziehen sich bunte Marktstände mit einem unheimlichen Warenangebot. Unsere Neugier wird ganz besonders auf dem „Zaubermarkt" geweckt, auf dem in rauhen Mengen getrocknete Lama-Embryos angeboten werden. Wie wir in Lössls Peru-Bolivien-Buch nachlesen konnten, werden diese Embryos beim Hausbau in die vier Hausecken eingemauert, damit sie Glück bringen und Elend und Leid von den Bewohnern abhalten.

 Irgendein Zaubermittelchen täte Conni heute sicherlich ganz gut; denn sie wirkt ziemlich angeschlagen: Nach Halsschmerzen, Schnupfen und leichtem Husten hat nun Montezuma anscheinend seine Hand im Spiel. Der erste „durchschlagende“ Erfolg in Form von Durchfall und entsprechenden Darmbeschwerden hat sich eingestellt. Ich habe zum Glück noch keinen Grund zum Klagen.

Nach dem Indioviertel ist der weitaus mondänere Prado dran. Dieser bildet mit Hochhäusern, Kinos, feinen Restaurants, Botschaften und einer Prachtstraße das Stadtzentrum. In einem Nobelhotel defilieren Conni und ich forsch am Türsteher und der Portiersloge vorbei und lassen uns vom Fahrstuhl zum obersten Stockwerk bringen, Von hier oben hat man einen guten Rundblick, was ich mit der Kamera festzuhalten versuche.
Leider sind sowohl das nahe Goethe-Institut alsauch das Museum Casa de Murillo entgegen den Reiseführerinformationen geschlossen. Aber wieviel hat da bisher schon nicht gestimmt! Merkwürdig auch, daß wir über eine Stunde nach einem geöffneten Lokal suchen müssen, Es gibt eine Menge an Tagebucheintragungen nachzuholen, und um halb zehn gehen wir noch in das benachbarte Kino, wo wir uns Mel Brooks „Historia del Mundo“, die „verrückte Geschichte der Welt" ansehen.

 

2.8. -  Montag

Die noch nicht so sehr auf Tourismus getrimmten Indios von La Paz lassen sich nicht gern fotografieren. Sie fürchten, daß man ihnen auf diese Weise die Seele stehlen könnte. Und so kommt es, daß selbst bei dem Versuch, einen kleinen Schuhputzer, der Connis Schuhe von all dem vielen Schmutz befreit, abzulichten, dieser eilig die Mütze übers Gesicht zieht und den Kopf wegdreht.
Die Marktfrauen, meist mit kleinen Kindern in bunten Tragetüchern, sehen in ihrer Breithüftigkeit wie brütende Hennen aus, wenn sie mit der charakteristischen „Melone“ auf dem Kopf hinter ihren Ständen hocken.
Der Generalstreik scheint nicht stattzufinden" denn das Leben in den Straßen pulsiert wie eh und je. Mit unseren billigen Pesos in der Tasche läßt es sich gut Geschäfte abklappern. Heute sind auch die vielen Läden mit Alpaca-Stricksachen (Alpaca-Schafe gelten übrigens als die „Wolleweltmeister“), Umhängetaschen, günstigen Silbersachen und vielem mehr geöffnet. Es dauert dann auch nicht lange, bis wir fündig werden: ich entdecke eine wunderbare gewebte Alpaca-Weste zum Spottpreis, Conni erwirbt kleine Silberkettchen mit indianischen Anhängseln und endlich wieder Wolle zum Stricken.
Das Tiahuanaco Museum ist (angeblich schon seit Jahren) geschlossen, dafür hat heute das Goethe-Institut geöffnet. Hier können wir die „neueste" Süddeutsche vom 28.7. studieren.

Unsere Ausflugspläne sind in Frage gestellt, da uns die Dame vom Tourist Office erzählt, daß zwar kein Generalstreik zu erwarten sei, dafür aber die Straßen außerhalb von La Paz durch protestierende Campesinos blockiert werden. Die Landarbeiter kämpfen für gerechteren Lohn und gegen die Wahnsinnsentwicklung beim Währungsverfall des Pesos mit entsprechender Inflation. Hoffentlich können sie wenigstens einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen, wo selbst wir als die relativ Reichen von der Wechselkurs-Baisse profitieren: Der Peso steht inzwischen im Verhältnis 1:175 zum Dollar!

In einem China-Restaurant kommen wir mit einem Schweizer ins Gespräch, der an einem Selbsthilfeprojekt bei Puna mitarbeiten will. Dort hat sich eine Gruppe zusammengetan, die die hier viel zu billig verkauften Wollsachen organisiert und koordiniert in anderen Ländern, ähnlich der „Jute statt Plastik“-Aktion, vertreiben will. Das Haupthindernis dürfte dabei der aufgeblähte Bürokratismus sein, der ja gerade in Ländern der Dritten Welt unglaubliche Blüten treibt.

 Kino in La Paz ist immer ein schönes und preiswertes Vergnügen, selbst wenn es sich um einen Schinken wie „Auf dem Highway ist die Hölle los“ handelt. Die Filme werden übrigens immer im Original mit spanischen Untertiteln gezeigt.

 

3.8. -  Dienstag

Heute ist mein Geburtstag, noch dazu der dreißigste; und da wollen wir zusehen, daß wir mal wieder eine größere Tour auf die Beine stellen. So ziehen wir mit leerem Magen gegen zehn bergauf durchs Indioviertel vorbei an einem riesigen Friedhof auf der Suche nach einem Busbahnhof. Nach einiger Fragerei finden wir diesen auch und haben (wieder mal) Glück: Wir springen in einen der wartenden Busse, welcher schon im nächsten Moment genau dahin abfährt, wo wir hinwollen, nämlich nach Tiahuanaco. Tiahuanaco, 70 km von La Paz entfernt, ist die wichtigste präkolumbianische Kulturstätte aus der Zeit zwischen 500 und 1000 n.Chr.

Bevor wir diese erreichen, kommen wir zuerst wieder einmal zu einer Zwangspause: Wie schon so oft streikt der Bus. So heißt es nach einiger Fummelei alle kräftig Schieben, und weiter geht die Fahrt. Inmitten des weiten und rauhen Altiplano sehen wir bald die Ruinen nahe der Straße liegen.
Kleine und große Jungen versuchen, mit uns ins Geschäft zu kommen, indem sie „original antike" Figuren, wahrscheinlich made in 1982 anbieten. Außer uns ist kaum jemand unterwegs, so daß wir in aller Ruhe und völlig ungestört durch die Kult-Stätte spazieren, zwischendurch faul in der Sonne liegen und über die Bedeutung des ehemaligen Wallfahrtsortes aus der Vorinkazeit nachlesen können.
Prachtstück der Anlage ist ein gut erhaltener Monolith, eine aus einem riesigen Stein gehauene Götterfigur (siehe nächste Seite). Weitere Attraktionen sind das ebenfalls aus einem Stein gefertigte mächtige Sonnentor und die diversen unter- und überirdischen Tempelanlagen. Nach längerer Unterhaltung mit einem einsamen Lama gilt unser nächster Besuch einer zweiten Kultstätte etwas außerhalb des kleinen Ortes. Auf einem Hügel liegen Steinplatten und -blöcke so kreuz und quer durcheinander, daß man an eine Naturkatastrophe glauben könnte, die hier gewütet hat. Aufgrund einiger Fische-Darstellungen sind manche Forscher der Meinung, daß Tiahuanaco ein Hafen gewesen sei, was bedeuten würde, daß sich der 20 km entfernte Titicacasee in den vergangenen Jahrhunderten enorm abgesenkt haben muß.

Nach soviel Bildung stürzen wir uns erneut in das Abenteuer einer Fahrt mit dem Indiobus. Für die 70 km bis nach La Paz bezahlen wir nur etwa 80 Pfennige (ein gutes Beispiel für unsere Verkehrsbetriebe!) und sind zu unserer Freude wiederum die einzigen Gringos im Bus. Diesmal bringen wir die zweieinhalb Stunden ohne Panne, dafür aber im Stehen auf der unmöglichen „Abtreibungsstrecke“ hinter uns. Zwischendurch wird an zwei Stationen gründlich kontrolliert; wie wir beim zweiten Mal herausfinden, um nach Schmuggelware aus Peru zu fahnden.

Der fast ausschließlich von Indiofrauen belegte Bus scheint ein gutes Schmuggelvehikel zu sein; denn jedesmal wandern zahlreiche Päckchen mit Waschpulver und Ähnlichem durch den Bus und verschwinden in Taschen oder unter den dicken Röcken der Frauen. So wird auch mir ein solches Paket zugeschoben, das denn auch brav unter meiner Fototasche verschwindet. Nach der Kontrolle wird schmunzelnd alles an den oder die Besitzer zurückgegeben, und als in der Ablage aus einem zappelnden Sack ein unüberhörbares Quieken dringt, ist die Heiterkeit im Bus groß.

Den Abend verbringen wir nicht weit von unserem Hotel in einem Restaurant, und es wird noch ein anregender Geburtstagsabend. Da ich auf der Suche nach Mitreisenden für einen Urwaldausflug in die Yungas bin, gerate ich an ein deutsches Paar, das zwar nicht auf mein Vorhaben eingeht, sich aber wenig später an unseren Tisch setzt. Die beiden sind zwei arg schwäbelnde Studenten aus Stuttgart, die sich vier Monate lang durch Südamerika schlagen wollen. Sie sind ganz angetan von La Paz und den Preisen hier und machen den Vorschlag, daß wir unsere Planung ändern und mit ihnen einige Tage durch den bolivianischen Dschungel tingeln. Der Vorschlag gefällt uns eigentlich recht gut, zumal die Strecke total abseits der überbevölkerten Gringo-Route liegt. So pallavern wir munter bis zum Lokalschluß und bringen es zusammen auf immerhin vier Flaschen leckeren Rotweins.

 

4.8. -  Mittwoch

Als wir am späten Vormittag einigermaßen von dem Gelage erholt in Richtung Zentrum marschieren, sprechen mich unterwegs ein paar Franzosen an und fragen, ob wir sie nicht auf einem Ausflug zum Chacaltaya, dem höchsten Skigebiet der Welt, unweit von La Paz, begleiten wollten. In einer viertel Stunde schon gehe es mit zehn französischen Landsleuten auf einem gemieteten Kleinlaster los. So unvermutet der Vorschlag kam, so spontan ist unser Entschluß, in unsere „Erfolgsbilanz" einen weiteren Superlativ einzureihen.
Pullover und Sonnenmittel sind schnell geholt, und wenig später kauern wir zwischen Franzosen, einer ununterbrochen auf uns einredenden Berlinerin und einer Indiofrau mit Kind auf der Ladefläche eines Mini-LKW. Heute ist nun doch Streik, und zwar aller öffentlichen Transport - und Taxiunternehmen, so daß wir uns wie Streikbrecher vorkommen, als wir die auf den Straßen angehäuften Steinblockaden umfahren.
Schon bald nach Verlassen der Stadt wiederholt sich ein altbekanntes Spielchen: Eine Panne verhilft uns zu einer Zwangspause, in deren Verlauf tausend „Spezialisten“ versuchen, den Fehler herauszufinden. Wie durch ein Wunder gelingt dies auch (wie immer), und nach etwa einer viertel Stunde geht‘s weiter in Richtung Andengipfel.
Unser Ziel liegt in 5600m Höhe, und so muß der völlig überlastete Motor mehrmals auf der strapaziösen Fahrt mit frischem Kühlwasser und einer Pause versorgt werden. Als das Wasser ausgeht, behilft man sich mit Schnee vom Wegesrand. Auf diese Weise kommen wir immer wieder zu kleinen Fußmärschen und regem Informationsaustausch mit den Franzosen.
Endlich erreichen wir nach z.T. atemberaubender Fahrt an furchterregenden Abgründen entlang doch noch unser Ziel. Conni und einige andere bleiben an der augenblicklich außer Betrieb befindlichen Liftstation des „Club Andina“, während wir anderen über Geröll und ewiges Eis den Gipfel dieses Berges erklimmen, wobei uns ein ums andere Mal die Puste ausgeht. Könnte man sich als Lohn für die Mühe nun auch noch ein paar Skier unterschnallen, wäre die Schau perfekt. Aber der herrliche Ausblick auf die Anden-Riesen und sogar den in der Ferne glänzenden Titicacasee entschädigen zur Genüge. Immerhin befinde ich mich auf dem höchsten je von mir betretenen Punkt der Erde!

Die Idylle stört nur ein bißchen die überkandidelte Berlinerin, die ganz schön überemanzipiert auf die Anrede eines Franzosen mit „Fräulein" sehr unwirsch reagiert. Dabei versicherte der Franzose, er kenne nur dieses eine deutsche Wort.

Während der Rückfahrt nach La Paz wird's mächtig kalt hinten auf dem Laster; deshalb rücken wir alle eng zusammen und wärmen uns gegenseitig. Unterwegs wollen ein paar Lamas am Wegesrand unbedingt fotografiert werden. Als wir das Superpanorama der Hauptstadt erreichen, geht gerade ein wunderbarer Vollmond auf.

Am Abend haben Conni und ich „Lokal-Termin" mit Karl und Christine, den beiden Schwaben von gestern Abend. Nachdem uns ein Bekannter der beiden, der seit sieben Monaten bei Santa Cruz als Entwicklungshelfer arbeitet, einiges Interessante über das Leben und Arbeiten mit den Campesinos erzählt hat, schmieden wir Urwaldpläne für die nächsten Tage.

 

5.8. -  Donnerstag

Wir haben das Gefühl, als knistere es heute an allen Ecken und Enden von La Paz. Nachdem wir zunächst um halb sieben früh mühsam und umständlich unser Hotelzimmer bezahlt haben (cheque - si, cheque - no) und endlich unsere gewaschene, aber z.T. verwechselte Wäsche in Empfang nehmen können, lassen wir vier (Karl, Christine, Conni und ich) uns von einem Auto in einen Randbezirk von La Paz fahren. Als Fahrer dient uns ein Polizist, den ich irrtümlich für einen Taxifahrer gehalten und angesprochen habe. Auf diese Art verdient er sich wahrscheinlich ein kleines Zubrot.
Ab halb acht stehen wir in der morgendlichen Kälte, den Daumen in die Höhe gestreckt, und hoffen, mit einem Lastwagen oder Jeep in die Yungas nach Coroico zu gelangen. Außer uns warten noch etliche andere Leute am Straßenrand auf eine Gelegenheit, von hier wegzukommen.
Es fährt kein Bus, da ja gestreikt wird. Ein paar Autos halten an, deren Fahrer uns eine Mitfahrmöglichkeit allerdings zu horrenden Preisen anbieten, so daß wir nur kopfschüttelnd ablehnen. Nach einigem Stehen und Warten erkennen wir am Ende der Straße eine Menschenansammlung, die sich offensichtlich zu einer Straßenbarrikade formiert.
Um Genaueres herauszubekommen, nähere ich mich der Menge und sehe, wie Autos und LKWs, die die Ausfallstraße benutzen wollen, durch Steinhaufen und Sperrgürtel zum Umkehren gezwungen werden. Dabei ist man nicht zimperlich: mehrmals werden Steine aufgelesen und den herannahenden Fahrzeugen entgegengeschleudert. Wir müssen erkennen, daß wir keine Chance zum Durchkommen besitzen, und so treten wir nach dreieinhalbstündigem Warten den Rückzug in Richtung Innenstadt an.
An einer zweiten Straßensperre bekommen wir beinahe Ärger, als Christine ein Foto machen will und bereits die ersten Steine fliegen. Ich werde leicht getroffen, und schon nähern sich uns einige aufgebrachte Leute mit unverkennbaren Drohgebärden; doch zum Glück winkt einer der Streikführer im letzten Moment seine Kumpane zurück.

Der Grund für die unvermutete Aggression liegt wahrscheinlich in der allgemein angespannten Lage, die sich uns wie folgt darstellt: Die Regierung soll zum Rücktritt gezwungen werden, indem alle wichtigen Verbindungsstraßen zu den Versorgungszentren im Hinterland unterbrochen werden und es also so zu einer Kraftprobe zwischen Regierung und der Bevölkerung kommt. Die Lage für die Bevölkerung muß katastrophal sein. Astronomische Inflationsraten, schlechte Ernten, Erhöhung der Brot- und Buspreise um das Doppelte und nun auch noch eine gefährliche Versorgungskrise durch die Straßenblockaden.

An den Brotläden und an Brotlastwagen stehen unendlich lange Schlangen; an den Tankstellen warten die vielen Autofahrer vergeblich auf Benzin. Und morgen steht noch dazu der bolivianische Unabhängigkeitstag an, der - wie man uns erzählt - die Gemüter der Bevölkerung stets dermaßen erhitzen soll, daß es regelmäßig Krawalle und Unruhen gebe.

Und wir, die wir La Paz so gerne in Richtung Urwald verlassen hätten, müssen zurück in das Pulverfaß, das jeden Augenblick explodieren kann. Vor einem Aktions-Gebäude sind Wandmalereien, Parolen und Puppen angebracht, die die Krisensituation verdeutlichen.

Auf der Suche nach irgendeiner Möglichkeit, per Flugzeug, Bus oder Bahn, doch noch aus der Stadt herauszukommen, begegnen wir einem Amerikaner, der uns rät, so schnell wie möglich von hier zu verduften. Er habe gerade noch ein Ticket nach Santiago de Chile erwischt. Ganz so dramatisch erscheint uns die Lage nun doch nicht, auch wenn man es schon etwas mit der Angst zu tun bekommen kann, betrachtet man die schwerbewaffneten Soldaten und Polizisten, die mittlerweile an jeder Ecke stehen. Wir pilgern mit vollem Gepäck von Pontius zu Pilatus, aber es bleibt zwecklos. So stoßen wir zwar auf keine Ausreisemöglichkeit, dafür aber auf die aufgedrehte Berlinerin von neulich, die heute auch Grund hat, aufgedreht zu sein: Ihr ist eben auf der Post ihr Paß geklaut worden, was ihr sicher noch einige Lauferei bescheren wird. Es soll sogar eine Rundfunkdurchsage gemacht werden.

In einem „Nadelstreifen-Restaurant" mit für uns immer noch äußerst günstigen Preisen liegen wir mit unseren Bestellungen nicht sehr glücklich, da es gerade das, was wir haben möchten, heute nicht gibt.

In den Straßen wird man von einer wahren Menschenflut förmlich erdrückt. Die Leute, die sonst mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, werden dichtgedrängt auf Militär-Lastwagen wie zusammengetriebenes Vieh weggekarrt. Nahe dem Präsidentenpalast soll ein Auto in Brand gesteckt und ein Polizist erschossen worden sein. Nirgendwo darf man stehenbleiben. Sofort ist ein Polizist in der Nähe, der einen zum Weitergehen auffordert. Der langen Schlepperei müde erreichen wir gegen Abend endlich das Hotel, wo wir uns nochmals einquartieren und uns anschließend in unserem Stammlokal verabreden.

Hier treffen wir auch den Entwicklungshelfer von gestern Abend wieder, dem wir bei Riesen-Essensportionen von unserer Pleite berichten. Wie es nun weitergehen soll, steht vorerst in den Sternen. Als ich diese Zeilen spät am Abend schreibe, sehe ich auf dem gegenüberliegenden Platz eine große Menschenmenge, die dort im Freien lagert und sich an überall entzündeten Feuern wärmt.

 

6.8. -  Freitag                 La Paz - Copacobana

Angesichts der ungewissen Lage ergreifen wir die Flucht nach vorne: Nachdem ich früh um acht als erstes einen der vor dem Hotel wartenden Franzosen gefragt habe, ob sie in ihrem Lastwagen nach Copacobana noch Platz für zwei hätten und ich einen negativen Bescheid erhalte, habe ich bei einer anderen Gruppe Glück. Hier sind zwei Peruaner, die ein Sammeltaxi bestellt haben und nun nach Mitfahrern fahnden.

Nachdem ich den Fahrpreis von 1500 Pesos auf 1000 heruntergehandelt habe (die Unternehmen nutzen die kritische Lage schamlos aus), muß schnell der Rucksack geholt und den beiden liebgewonnenen Schwaben adieu gesagt werden.

Schon geht die Fahrt in einem bequemen amerikanischen Schlitten über Schleichwege los, als sich der erste Schreck einstellt. Obwohl die Straße in Richtung Flughafen frei ist, biegt unser Fahrer plötzlich nach links auf die Straße nach Desaguadero ab. Wir protestieren heftig, denn schließlich lautet unser Ziel Copacobana am Titicacasee. Doch unser Fahrer läßt sich nicht beirren; er erklärt, daß die Straße nach Copacobana blockiert sei und außerdem die Fähre zur Halbinsel wegen des Streiks nicht verkehre. Was bleibt uns übrig, als uns in unser Schicksal zu fügen und zu hoffen, daß wir doch noch irgendwie an unser Ziel gelangen. (Daß uns der Fahrer belogen hat oder einer Fehlinformation aufgesessen ist, erfahren wir viel später, als wir einige Franzosen wiedertreffen.)

So dürfen wir - diesmal allerdings nur im Vorbeifahren aus unserer Luxuslimousine heraus - erneut die Ruinen von Tiahuanaco bewundern. Nach zweieinhalb Stunden ist Desaguadero, der bolivianisch-peruanische Grenzort erreicht. Claro, daß im Moment unserer Ankunft die Grenze dichtmacht und uns so die Gelegenheit gegeben wird, den an unsere Schützenfeste erinnernden Umzügen und Jubelveranstaltungen zum Nationalfeiertag zuzusehen.

Auf dem Indiomarkt tätigen wir noch einige Einkäufe, und an einem Stand mit Bündeln von Pesos und Soles werden mir Peso-Scheine gewechselt.
Einer Trophäe gleich entführen wir stolz ein farbenfrohes, handgewebtes Umhängetuch, das ich einer Indiofrau abgehandelt habe und das uns zu Hause als Tischdecke dienen soll.

Langsam müßte eigentlich die Grenze wieder geöffnet werden, und so versuchen wir's aufs Neue. Beim gewohnten Warten kommen wir mit ein paar Deutschen ins Gespräch, die mit einem VW-Bulli mit Zollkennzeichen unterwegs sind. Schnell hat sich herausgestellt, daß es sich um zwei Lehrerfamilien handelt. Meine Intuition läßt mich nicht im Stich, als ich weiterhin herausbekomme, daß sie in Arequipa unterrichten, nämlich an jenem „Collegio“, das wir vor genau zehn Tagen aufgesucht haben. Das I-Tüpfelchen auf diese kuriose Begegnung setzt allerdings einer der beiden Männer, der sich als derjenige zu erkennen gibt, dessen Adresse wir vom Hausmeister in Arequipa in die Hand gedrückt bekommen hatten.

Endlich können wir die Grenze passieren, bekommen nach längerem Suchen und Fragen im nächsten Ort einen Einreisestempel und lauschen gleich drauf erfreut den Lockrufen eines Mannes, der mit seinem gedehnten „Yunguyoyoyoyo“ seinen leeren Lastwagen als Transportmittel offeriert. Unser nächstes Etappenziel ist also in greifbare Nähe gerückt, und so steigen wir ohne Zögern auf das Gefährt. Mit der Abfahrt dauert es noch etwas, denn zuerst muß jeder Zentimeter der Ladefläche mit Säcken, Taschen und Indios gefüllt werden. Und wir mittendrin! Für zwei Stunden genießen wir unser „Eingebettetsein“ mit Blick auf stillende Mütter und weniger auf den Titicacasee. Zwischendurch müssen wir genau wie unsere Mitreisenden immer wieder die Gesichter verhüllen, da der aufgewirbelte Straßenstaub zuweilen unerträglich wird.

Als hätten wir's bei Neckermann gebucht, erwischen wir in Yunguyo auf Anhieb einen anderen LKW, der uns über die Grenze wieder nach Bolivien bringen soll. Fast wäre uns dieser allerdings an der Grenze doch noch davongefahren, da die Einheimischen keinen Stempel brauchen und wir deshalb in einem Mordstempo dem Paßsignum hinterherjagen.
Der Gegenverkehr auf der allzu engen Straße nach Copacobana ist enorm, alles LKW's und PKW's voller Menschen, die von der großen Fiesta zurückströmen. Bei dieser Fiesta in Copacobana handelt es sich um das größte Wallfahrtsfest in Lateinamerika, das alljährlich zigtausend von Pilgern und Folkoregruppen anzieht; letztlich auch uns, die wir ja bereits vor einer Woche diesen hübsch gelegenen Ort auf dem Weg nach La Paz passiert haben.

Kaum zu glauben, aber nach insgesamt zehn Stunden erreichen wir doch noch Copacobana, das auf der normalen Strecke nur 150 km von La Paz entfernt liegt. Es ist schon stockfinster, und so haben die Lastwagenleute leichtes Spiel, uns um ein paar Pesos zu betuppen. Dafür finden wir auf Anhieb eine billige Absteige (3 DM das Doppelzimmer), in der zwar sieben Betten stehen, wir aber alleine nächtigen. In einem Restaurant können wir einige Bolivien-Neulinge mit Informationen über La Paz und die momentanen Zustände versorgen,

 

7.8. -  Samstag

Von der in Reiseführern überschwenglich gepriesenen Fiesta sind wir ein bißchen enttäuscht. An Menschenmassen in diesem ansonsten beschaulichen Ort mangelt es zwar nicht, aber die angekündigten Attraktionen halten sich in Grenzen. Der Strand unten am See ist vollgestellt mit Lastwagen und Bussen, deren Passagiere hier lagern. Überall gibt es in rauhen Mengen klerikalen Kitsch, daß es einen schaudert. Nur der große Markt auf der Plaza lohnt einen Rundgang und lädt zu letzten Einkäufen in Bolivien ein.

 

Prunkstück des Ortes ist die große Basilika, die in kolonialbarockem Stil erbaut ist und die im Innern viel Stuck, einen monströsen Goldaltar und vor allem eine kitschig bunte Marienfigur beherbergt, derentwegen der ganze Zauber hier veranstaltet wird.
Da können wir den nahen Felsen schon mehr abgewinnen. Entlang einem schweißtreibenden Kreuzgang erklimmen wir mühsam einen Gipfel, der von sieben steinernen Kreuzen gekrönt ist. So ganz scheint es den frommen Herrschaften nicht gelungen zu sein, selbst durch eine solch massive Demonstration des Christentums alle heidnischen Geister zu vertreiben; denn an mehreren Stellen hocken hier oben in sich gekehrte Indios, die geheimnisvolle Süppchen brauen und für uns unverständliche Rituale vollziehen. Wir genießen den schönen Blick auf Copacobana und den Titicacasee und mit uns viele Pilger, die allerdings mehr dem Alkohol als der schönen Aussicht zugetan zu sein scheinen.

Viele Menschen in einem kleinen Ort ergeben auch viel Schmutz. Mittlerweile geht uns der allgegenwärtige Kot- und Urinanblick und -geruch ganz schön auf die Nerven. Aber was hilft's?
Ein bißchen entschädigend sind die zahlreichen Folkloregruppen, die überall, selbst in Lokalen musizieren und deren Klänge wir inzwischen zwar im Schlafe kennen, denen wir aber nicht müde werden zuzuhören.
In dem Lokal, in dem ich diese Zeilen in mein Tagebuch schreibe, sitzen uns ein paar Italiener gegenüber, die lautstark die vorübergegangene Fußball-Weltmeisterschaft diskutieren. Der Wirt ist äußerst unfreundlich, und im Fernsehen läuft „Der Alte“ mit Siegfried Lowitz.

 

8.8. -  Sonntag                 Copacobana - Puno

Die Hiobsbotschaften häufen sich: Italiener erzählen uns, daß der bolivianische Präsident bereits gestürzt sei und sich die Lage in La Paz dramatisch zuspitze. In Ayacucho/ Peru, unserer nächsten Station nach Cuzco, ist einem Zeitungsbericht zufolge der Ausnahmezustand verhängt worden, nachdem Terroristen eine Bombe haben hochgehen lassen und Geschäfte, Banken und Touristenbusse ausgeraubt worden seien. Sogar einige Touristen sollen ermordet worden sein. Schlimme Zustände!

Unser heutiger Reisetag beginnt mit einer LKW-Fahrt, die für mich schneller endet, als mir lieb ist: Die netten Leute aus dem Laster haben es bei allem „Maňana“-Denken dann an der Grenze doch so eilig, daß sie trotz inständiger Bitten nicht warten, während ich die notwendigen Stempel einhole. Daß Conni noch hinten mit den beiden Rucksäcken auf der Ladefläche schmort, kümmert sie herzlich wenig; und so bleibt mir nichts anderes übrig, als die drei Kilometer bis Yunguyo zu Fuß zu laufen.

Der lange Spurt hat sich gelohnt, da Conni und ich auf der Plaza des Ortes glücklich wiedervereint sind und die Kosten für die LKW-Fahrt eingespart haben. Nachdem die Leute vom Laster mich so schmählich im Stich gelassen haben, müssen sie nun in die Röhre gucken; denn ohne Amigo keine Soles!

In Yunguyo beginnt das große Warten auf eine Fahrgelegenheit nach Puna. Bald sind wir umringt von "globetrottelnden" Italienern, Brasilianern, Luxemburgern, Deutschen und einem Amerikaner, die wie wir warten bzw. auf der Suche nach einem Gefährt sind.

Leider herrscht heute am Sonntag offensichtlich stark eingeschränkter Pendelverkehr. Dennoch haben wir endlich um halb zwei Glück und ergattern zwei Plätze in einem für hiesige Verhältnisse komfortablen Bus, so daß sich auch die sattsam bekannte Marterstrecke zwischen Yunguyo und Puno diesmal gut ertragen läßt.

Weniger erträglich sind dagegen die Rennfahrerambitionen unseres Fahrers, den ein ums andere Mal ein rasender Teufel zu reiten scheint.

Eine unserer besten Übungen, Hotelsuche und Ticketbeschaffung, gelingt nur z.T., da man uns auf dem tristen Bahnhof von Puno mit den Eisenbahnkarten auf morgen früh vertröstet. Der fast zahnlose, glitschige Schalterbeamte steigert sich bei unserem und anderer Ticketaspiranten Klopfen jedesmal mehr in Rage, so daß sein Herzinfarkt eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein kann. Wir lassen nicht so schnell locker, doch leider „zieht“ der von Roland empfohlene Trick mit dem Kartenkauf am Vorabend der Reise diesmal nicht.
Überhaupt verdichtet sich mehr und mehr der Eindruck, daß Fahrscheine in diesem Land rein willkürlich oder nach einem uns unbekannten Ausleseprinzip vergeben werden.

Anschließend trösten wir uns mit einem Besuch eines sehr malerischen Indiomarktes, auf dem vor allen Dingen Alpacasachen zuhauf feilgeboten werden. Bei einer Indiomatrone gelingt mir sogar das Kunststück, einen in Bolivien zu klein gekauften Pullunder für ein geringes Entgelt gegen einen größeren und besser verarbeiteten einzutauschen.

 

9.8. -  Montag              PunoCuzco
Um sechs Uhr früh Schlange zu stehen ist kein reines Vergnügen, ganz besonders wenn es draußen gefroren hat und auch mehrere Pullover übereinander kaum vor der Kälte schützen. Unser Entschluß, daß sich einer für die erste und der andere für die zweite Klasse anstellt, erweist sich als sehr vorteilhaft, da ich um viertel nach sieben zwei 2.Klasse-Scheine für uns und zwei weitere für den Amerikaner von gestriger Busfahrt und für einen Franzosen bekommen kann. Conni hingegen steht in der 1.Klasse-Abteilung zusammen mit -zig anderen enttäuschten Travellern auf verlorenem Posten; der Schalter wird nur ganz kurz aufgemacht, dann heißt‘s schon „ausverkauft" - sehr unverständlich angesichts der vielen Waggons, die wartend auf dem Gleis stehen.

Mit einstündiger Verspätung geht es um neun Uhr los in Richtung Cuzco, dem Mekka aller Südamerikareisenden, etwa vergleichbar mit Katmandu/Nepal für Asien-Freaks.

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg, genaugenommen 393 km lang, für den die Eisenbahn zehneinhalb Stunden benötigt. Und in diesen zehneinhalb Stunden können wir wieder einmal eine jener unverwechselbaren Reisen miterleben, die einem in dieser Form nur auf Eisenbahn-, Bus- oder LKW-Fahrten in Ländern der Dritten Welt zuteil werden.

Zunächst läuft alles sehr zivilisiert ab: Wir sitzen auf richtigen (wenn auch äußerst eng bemessenen) Plätzen und bringen mit einiger Mühe sogar unsere Rucksäcke unter. Guter Dinge lausche ich den Stereo-Klängen der Rolling Stones, die mir über den Walkman des Amerikaners zu Ohren kommen. Wenn man wie mein amerikanischer Nachbar schon über ein Dreivierteljahr unterwegs ist, kann so ein Gerät schon mal ganz nützlich sein.

Die musikalische Abwechslung kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es langsam eng wird. Scheinbar jedes erdenkliche Fleckchen des Waggons wird zugestopft mit Säcken, Paketen und nicht zuletzt Menschen, so daß man sich schließlich kaum noch rühren kann. Bei aller Enge ist es doch lustig, hier mittendrin zu sitzen und die Indios mit ihren weißen Zylindern auf dem Kopf in ihrem geschäftigen Treiben zu beobachten.

Zwischendurch kommt zum x-ten Mal der Schaffner, um zum x-ten Mal die Fahrkarten abzuknipsen und sie zu guter Letzt einzusammeln. Alle paar Minuten robben sich Süßigkeitenverkäufer, Frauen mit Brot, Chicha-Bier, Souvenirs oder heißem, frisch gebratenem Hammel, den sie in Portionen zu 500 Soles anbieten, durch die unwegsamen Gänge. Die absolute Schau bilden die Verkäufer mit Riesenstücken rohen, noch blutenden Fleisches, das denn bei den Käufern unverpackt und tropfend oben in der Gepäckablage landet. Genauso geht es mit frischen Forellen, die der Reihe nach aufgespießt durch das Abteil getragen werden.

Und das alles bei 50 Kilometern in der Stunde mitten durch endlose Puna, die nach und nach abgelöst wird von abwechslungsreicherer Vegetation wie Agaven, Kakteen und Eukalyptuswäldern. Während der Fahrt lese ich - passend zur Landschaft in Ciro Algrias Roman "Die hungrigen Hunde", der eben in besagter Puna spielt und von dem kargen Leben ihrer Bewohner handelt. Zwischendurch sorgen Gespräche mit meinem französischen Gegenüber, einem netten Jungen, der hier an einer archäologischen Forschungsstätte seinen Zivildienst ableistet, für zusätzliche Unterhaltung.

Um halb acht sind die ersten Lichter von Cuzco auszumachen, und kurz darauf sitzen Conni und ich sowie der Amerikaner und der Franzose zusammen mit ein paar anderen Gringos in einem VW-Bulli, der uns zu einem im South American Handbook empfohlenen Hotel bringt.

Angesichts der unsicheren Hotelsituation in Cuzco und der Dunkelheit draußen sind wir ganz froh, daß wir dem Aufreißer gefolgt sind und diese Nacht erst mal ein sicheres Dach über dem Kopf haben. Außerdem ist das Hotel El Alamo ganz hübsch und billig dazu. Auch die abseitige Lage stört uns nicht. Wir vier treten denn auch bald in Begleitung einiger Brasilianer, die wir noch von einem früheren Treff her kennen, einen anständigen Fußmarsch Richtung Zentrum an. Die Plaza de Armas ist hell angeleuchtet und sprudelt vor Menschen und quirliger Geschäftigkeit förmlich über. In einem kleinen Lokal stärken wir uns bei amerikanischen Popklängen und betreiben kunterbunte Konversation total international.

 

10.8. -  Dienstag

Heute nun können wir Cuzco, die ehemalige Inca-Hauptstadt in 3500 m Höhe, auch bei Tageslicht kennenlernen. Wir haben richtig ausgeschlafen, um ausgeruht und mit Muße die Wirkung dieser Stadt auf uns einfließen zu lassen. Zu den markantesten Gebäuden hier gehören die Kathedrale und die prunkvolle Jesuitenkirche „Compania", beide an der Plaza gelegen. Wie bei den meisten Kirchen ist der koloniale Stil unübersehbar. Bei der Frage, ob die „Compania“ wirklich die „schönste Kirche Amerikas" ist, wie es der örtliche Prospekt weismachen will, scheiden sich sicher die Geister.

Der erste längere Regen auf unserer Tour hüllt die Stadt leider in tristes Grau. Mir fällt auf, daß die meisten Autos ohne Scheibenwischer sind, so daß die Fahrer bestimmt einige Schwierigkeiten beim Erkennen der Straße haben.
Im Hotel Bambu, das Roland uns so empfohlen hatte, dem wir aber kaum etwas abgewinnen können, treffen wir eine in Tränen aufgelöste Deutsche, die seit mehreren Tagen einer treulosen Freundin hinterherreist. Diese hat das arme Mädchen mehrmals versetzt, so daß ihm jetzt nichts anderes übrig bleibt, als Zigaretten rauchend und Tee trinkend zu warten und auf bessere Zeiten zu hoffen. Und das bei drei Wochen Urlaub.
Für eine Weile begleitet sie uns auf unserem Erkundungsgang durch Cuzco, zieht sich dann aber in ihr einsames Domizil zurück, da die ungewohnte Höhe ihren Tribut fordert.

Außer dem erwarteten Touristenstrom erinnert mich hier in Cuzco einiges an Kathmandu in Nepal, einem Ort voller Atmosphäre, der immer neue Entdeckungen möglich macht. So gibt es auch hier eine Art „Freak-Street“, eine schmale Straße mit urigen Lokalen und Geschäften, in denen man Gebrauchsgegenstände z.B. zum Trecking kaufen, verkaufen oder tauschen kann. Und Typen gibt’s reichlich, die schon bessere Tage gesehen haben (Freaks).

Außerdem - es ist kaum zu glauben - gibt es auch hier Kuchen und Torten, von denen man in anderen Teilen Südamerikas oder Asiens nur träumen kann.

Doch bei aller Kuchen-Schwärmerei will ich nicht vergessen zu erwähnen, daß wir uns in einer überaus geschichtsträchtigen Stadt befinden, und will deshalb an dieser Stelle einiges über die Bedeutung des untergegangenen Incareiches festhalten:

Als einigermaßen gesichert gilt, daß Cuzco etwa um 1200 n,Chr. von dem ersten Inca-Fürsten Manco Capac gegründet worden ist. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung reichte das Inca-Imperium von der Mitte des jetzigen Chile bis nach Kolumbien mit Cuzco als Mittelpunkt und Hauptstadt, was der Entfernung vom Nordkap bis Sizilien entspricht. Aus heutiger Sicht ist das Staatsgefüge der Incas ein sozialistischer Staat gewesen, streng kollektivistisch durchorga­nisiert und ohne persönliche Freiheiten. Ähnlich unseren heute existierenden sozialistischen Staaten klappte es auch hier nicht so ganz mit der Gleichheit der Menschen, da es eine Führungsschicht mit vielen Privilegien, wie Befreiung von Feldarbeit und Militärdienst oder die Möglichkeit zur Verheiratung mit mehreren Frauen gab. Gegenüber der arbeitenden Bevölkerung war es Ihnen z.B. auch erlaubt, prächtige Kleider und kostbaren Schmuck zu tragen. Erstaunlich aber, was in der Medizin, der Baukunst (!), Metallverarbeitung, Textilherstellung und Handwerkskunst alles geleistet worden ist. Und nicht zu vergessen, daß - ganz im Gegensatz zu heute - niemand zu hungern brauchte. Doch etwas über drei Jahrhunderte nach seiner Gründung ging es 1532 rasch mit dem Inca-Reich zu Ende, als es zu einem Bruderkrieg und schließlich zur Landung der Spanier unter Pizarro kam. Dieser richtete ein grausames Blutbad an, zog bald darauf in Cuzco ein und übernahm die Herrschaft.

Nach soviel Geschichte wieder zurück zur Gegenwart, die als nächstes eine Fahrt zu den Ruinen der alten Inca-Stadt Macchu Pichu vorsieht. Ein glücklicher Zufall will es, daß uns eine nette Luxemburgerin, die wir in Yunguyo kennengelernt hatten, über den Weg läuft und uns anbietet, über ihren Schlange stehenden italienischen Freund zwei Billets für die Bahn nach Macchu Pichu zu besorgen.

Als wir am Bahnhof ankommen, steht der arme Kerl schon seit zwei Stunden dort und harrt wie etliche andere auf die begehrten Scheine. Eine lange Schlange kringelt sich um den wieder mal geschlossenen Schal­ter; und als dieser geöffnet wird, erschallen sofort empörte „Kola-Kola"-Rufe, was aber nichts mit dem gleichnamigen Getränk zu tun hat sondern sich auf die Einhaltung der Schlange bezieht. Wehe, jemand wagt es, sich vorzudrängeln!

Dank Monique, dem luxemburgischen Sprachgenie, und ihrem Freund kommen wir viel schneller als erwartet zu unseren Tickets für morgen früh.
Am Abend treffe ich in unserem Hotel ganz unverhofft Thierry, meinen französischen Kumpel von gestern, wieder, der heute eigentlich schon In Lima sein wollte, Da er keine Maschine bekommen hat, tröstet er sich mit einer der hübschen Brasi­lianerinnen, die nun das Zimmer mit ihm teilt. In der Hotel-Bar trinken wir gemütlich ein „Mate de Coca", einen leckeren Coca-Tee, und klönen noch ein bißchen.

 

11.08. – Mittwoch            Cuzco - Macchu Pichu

Die peruanische Eisenbahn bekleckert sich wirklich nicht mit Ruhm: Bereits um halb sechs in der Frühe stehen wir in einem Pulk von Menschen, die wie wir Macchu Pichu entgegenstreben,  d e r  Attraktion von Peru. Doch bevor es soweit ist, werden wir (wieder einmal) auf eine harte Geduldsprobegestellt.

Daß der Zug nicht, wie geplant, um sechs abfährt, ist noch kein Grund zur Aufregung. Daß aber Im Lauf der nächsten zwei Stunden zwei sog. Touristenzüge die betuchten Jet-Set-Touristen zur Inca-Ruine hochkarren, während wir immer noch warten, ist schon hart.

Doch schließlich, was lange währt ... , und so geht's halt statt um sechs endlich um halb zehn zunächst im Zick­zackkurs los. 1000 m vor, 1000 m zurück, bis wir nach mehr­facher Wiederholung dieser Prozedur mitten durch die Armenviertel von Cuzco letztendlich hoch über der Stadt geradeaus zuckeln.

Bei km 88 ertönt nach zweieinhalb Stunden der allseits er­wartete Ausruf des Schaffners „kilometro ochento-ocho", der einige der Mitreisenden veranlaßt, ihre Rucksäcke aus der Gepäckablage zu holen. Hier beginnt nämlich der berühmte „Inca-Trail“, einst die einzige Verbindung zwischen Macchu Pichu und Cuzco. Heute starten hier „Amateur-Messner“ und ganz normale Wander-Begeisterte in großer Zahl zu einer etwa viertägigen Klettertour mit Zelt und Schlafsack.

20 km weiter sind wir dran. Aguas Caliente heißt der Ort für diese Nacht, der stark an ein heruntergekommenes Nest aus einem Wildwestfilm erinnert. Ein paar „Saloons", einige ausladende Hotels und eine Eisenbahnstation säumen die einzige Verkehrsverbindung, die Eisenbahnlinie.

Wir sind nur etwa 1800 m hoch, was sich erfreulich auf das Klima und die Vegetation auswirkt. Richtig munter werden unsere Lebensgeister bei der warmen Sonne und dem Anblick üppiger Tropengewächse. Das Wildwasser des Urubamba, einem der Quellflüsse des Amazonas, der sich hier tief in die bizarre Felsenlandschaft eingeschnitten hat, tut sein übriges. Die vier km bis zur Macchu Pichu-Station legen wir auf oder neben den Schienen zurück und besteigen anschließend einen der dort haltenden Touristenbusse, die sonst all die neugierigen Menschenmassen hinaufbefördern.

Da es Nachmittag ist und die meisten Leute schon an die Rückfahrt nach Cuzco denken, sind wir die einzigen Businsassen, die in rasantem Tempo die unzähligen Serpentinen aufwärts fahren. Endlich sehen wir auf dem Bergrücken, umgeben von zerklüf­teten und stark bewaldeten Fels-Riesen, Macchu Pichu vor uns liegen, das „schönste und rätselhafteste Zeugnis der Inca-Zeit" (Lössl).

Entstanden ist es in der klassischen Inca-Periode um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Und wieder­entdeckt wurde es ganz zufällig von einem englischen Forscher Im Jahre 1911. Es ist immer noch ungeklärt, ob es sich um eine Sommerresi­denz der Inca-Herrscher, eine Fluchtburg oder eine Festung gegen wilde Amazonasstämme gehandelt hat. Jedenfalls ist es schon gewaltig und imposant, was sich da in 2400 m Höhe fern jeder größeren Ansiedlung und über allem thronend dem staunenden Betrachter auftut.

Ehrfürchtig vor soviel Baukunst und Formenharmonie wandeln wir durch den Tempelbezirk, das Intellektuellen- und Handwerksviertel, vorbei am Gefängnis bis hin zum Haupttempel, der auch zugleich den höchsten Punkt der Anlage bildet.
Aus einem Felssockel erhebt sich ein Sporn, der zu astronomischen Zwecken gedient hat. An den Gebäuderesten fallen besonders die konisch geformten Fenster auf sowie die Tatsache, daß hier Stein auf Stein, Nut auf Nut ganz exakt ohne Zwischenräume aufeinandergesetzt worden sind.
Vom ehemaligen Friedhof kann man die gesamte Anlage hervorragend überblicken. Hier bleiben wir, fast allein, in Betrachtungen versunken, in Staunen und Faszination ob dieser genialen Meisterleistung. Um fünf Uhr worden wir aus unserer Bewunderung regelrecht herausgepfiffen; wir müssen die Anlage verlassen. Da kein Kleinbus mehr fährt, laufen wir den Berg mit den vielen Kehren zu Fuß hinunter, was bei schnellem Gang eineinviertel Stunden dauert.

 

12.8.-  Donnerstag           Macchu PichuCuzco

Wenn wir aus zeitlichen Gründen schon nicht in den Genuß kommen, den gesamten Inca-Trail zu erwandern, so wollen wir wenigstens einen „Mini-Trail" auskundschaften. Daß dieses Vorhaben nicht ganz problemlos, dafür aber sehr reizvoll ist, erfahren wir schon eine Stunde nach unserem Abmarsch, dem Oberlauf des Urubamba entgegen.
Wir gelangen an ein Wasserkraftwerk, das wir laut Reiseführerbeschreibung über­queren müssen. Breitbeinig stellt sich uns ein Polizist in den Weg und erklärt, daß die Benutzung des Kraftwerks zum Überschreiten des Flusses aus Sicherheitsgründen verboten sei. Nun wollen wir unseren Wanderplan natürlich nicht so ohne weiteres aufgeben, und so parlieren wir so gut es geht, bis sich der Ordnungshüter erst einmal großspurig unsere Paßnummern aufschreibt. Dann endlich läßt er die Katze aus dem Sack: Für einen Dollar würde er uns über eine nahe Hängebrücke geleiten. Ein paar Soles tun es schließlich auch.

Nach diesem kurzen Bakschisch-Intermezzo sind wir endlich drüben. Jetzt geht es eigentlich erst richtig los. Fast senkrecht steht der Berg vor uns, den wir nun erklimmen wollen. Da braucht es schon eine Menge Kraft und Puste, und Connis Hoffnungen, den Gipfel ohne Zusammen­bruch zu erreichen, schwinden von Meter zu Meter.
Die Kletterpartie auf einem schmalen Pfad dauert fast zwei Stunden, bis wir endlich auf den ersehnten Inca-Pfad stoßen. An einer Quelle decken wir uns mit frischem Trinkwasser ein und wundern uns, daß hier in diesem wilden, einsamen Berg­land ein paar Männer damit beschäftigt sind, Häuser zu bauen. Das Baumaterial müssen sie bestimmt ganz mühsam aus dem fernen Tal hochtransportieren.
Ein Hinweisschild und kaum erkennbare Ruinen deuten darauf hin, daß wir uns nun (zum Glück wieder waagerecht) auf dem Weg Richtung Macchu Pichu befinden.
Ganz unvermutet verlassen wir den kahlen Bergrücken und tauchen in dichtes Dschungeldickicht ein. Schlinggewächse, Farne, Orchideen und viele andere, z.T. ins Riesenhafte vergrößerte Pflanzen sind von nun an unsere Weggenossen. Bunte Schmetterlinge flattern umher, und Eidechsen suchen ihr Heil in Felsritzen. Und das alles, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

Viereinhalb Stunden sind wir nun unterwegs, als wir eine steile Steintreppe erreichen, die schnell erklommen ist. Nicht der steile Aufstieg, sondern der Ausblick, der uns hier überrascht, nimmt uns regelrecht den Atem: Zu unseren Füßen breitet sich in einiger Entfernung Macchu Pichu in seiner ganzen Pracht aus. Wir sind wie von Sinnen, und all die Mühen und Strapazen des langen Marsches sind bei diesem Erlebnis vergessen. Auf einem kleinen Plateau lassen wir uns nieder und genießen die Kulisse, während wir uns mit Brot und Wasser stärken.

Schon bald müssen wir diesen Ort der Ruhe und Beschaulich­keit verlassen, schreiten noch einmal durch das nun von johlenden Touristenhorden bevölkerte Inca-Monument, passieren mit dem Hotel „Turistas" das zweitteuerste Hotel Perus (Doppelzimmer 140 DM) und begehen wenig später den uns wohlbekannten Schienenstrang Richtung Aguas Caliente.

Natürlich muß gerade in dem Moment, als ich mich in einem Tunnel be­finde, ein Zug kommen. Ich mache mich noch dünner, als ich ohnehin bin, und spüre hautnah, wie der Zug an mir vorüber­zischt,

Unsere Rucksäcke liegen bei unseren Zimmervermietern zur Abfahrt parat, und nach kurzer Verschnaufpause sitzen wir schon wieder im Zug zurück nach Cuzco. Ein deutscher Traveller erzählt uns von seinem strapaziösen Inca-Trail, den er mit ein paar wandererfahrenen Schweizern in nur zwei statt in vier Tagen bei Regen und ohne Zelt hinter sich gebracht hat.

Die Bahnfahrt wird zur Qual, da der vollbesetzte Zug für die 110 km fünf Stunden benötigt und wir zusammengekauert in einem schmalen Gang sitzen. Um halb elf kommen wir müde in unserem Hotel an.

 

13.8.   -  Freitag

An einem Freitag, dem dreizehnten, kann nicht viel Vernünftiges herauskommen. Conni sucht weiterhin ihren imaginären (oder echten?) Floh - diesmal können es aber auch Mückenstiche sein. In einem starken Augenblick betrete ich mannhaft einen Friseursalon und lasse mir für 500 Soles (=1,75 DM) vor Connis erschreckten Augen einen Kahlschlag verpassen, der in Windes­eile vollzogen ist. Der temperamentvolle Haarschneider ist wirklich in seinem Element, und ich frage mich, ob die nun am Boden liegende dunkelblonde Haarpracht noch irgendeine Weiterverwendung finden wird.

Die hiesige „Banco de la Nacion" hat sich etwas Neues einfallen lassen: So braucht man zum Eintauschen von Traveller­Schecks nicht nur den Paß, sondern auch noch Fotokopien der Passseiten. Als man zunächst meine zu Hause angefertigte Kopie nicht annehmen will, da mein Gesicht zu dunkel sei, werde ich bei solch einem Schwachsinn stocksauer.

Nach einiger Lauferei gelingt es uns, bei Aeoroperu einen Flug nach Ayacucho für nächsten Dienstag zu buchen. Wie sehr einem der aufgeblähte und daher zeitraubende Bürokratismus auf die Nerven gehen kann, bekommen wir erneut zu spüren, als wir mehrere Male vergeblich uns um die teuren Einheits-Eintrittskarten für die Sehenswürdigkeiten von Cuzco.bemühen. Mit diesem Sammelticket haben sich die Stadtoberen etwas Feines einfallen lassen: für sage und schreibe 10 Dollar oder 7100 Soles, hierzulande ein kleines Vermögen, kann man die Attraktionen in und um Cuzco bewundern, von denen einige so weit weg liegen, daß man sowieso nicht hinkommt. Und daß der Eintritt nach Macchu Pichu und in das Archäologische Museum von Cuzco da nicht mit drin ist, riecht schon gewaltig nach unverfrorener Abzockerei. Wir können nur froh sein, daß wir uns vor der Reise an der Uni Siegen eingeschrieben haben. Der Besitz des internationalen Studentenausweises spart uns (und zwei anderen Deutschen, denen wir die ermäßigten Karten besorgen) immerhin die Hälfte des unverschämten Preises ein.

Uns bleibt noch etwas Zeit, zwei der vielen Kirchen und das romantisch verwinkelte Altstadtviertel von Cuzco zu besichtigen. Neben den kaum noch zählbaren Läden mit Alpaca- und Kunstgewerbeartikeln erregen hier vor allem die massiven Fundamente vieler Häuser unsere Aufmerksamkeit. Obwohl die Spanier in ihrer Zerstörungswut leider viel zu viel in der alten Inca-Hauptstadt dem Erdboden gleich gemacht haben, ist zum Glück doch einiges erhalten geblieben; und man muß sich staunend fragen, wie man zur damaligen Zeit ohne technische Hilfsmittel tonnenschwere Felsblöcke so exakt hat bearbeiten und aufeinanderschichten können. Die Bauweise war so solide und stabil, daß die Spanier auf viele der standfesten Fundamente neue Kirchen und andere Gebäude draufgesetzt haben. Hauptattraktion dieser Baukunst ist ein zwölfeckiger Mammutstein, der in einer schmalen Gasse zu bewundern ist . Der heutige Tag war ganz schön teuer. Mit den Flugtickets nach Ayacucho und diversen anderen Ausgaben sind wir ohne große Mühe insgesamt 270 DM losgeworden. Cuzco ist im Vergleich zu anderen Städten Perus ein teures Pflaster, was sicher mit dem blühenden Fremdenverkehr zusammenhängt. Bei einem solchen Tagessatz würde unsere ganze Reise nur 15 Tage lang dauern bzw. wäre schon seit fünf Tagen vorüber.

Während ich in meine Rechenspielereien vertieft bin, kreuzen einige von einem früheren Troff her bekannte Gesichter unseren Weg. Inzwischen überrascht es nicht mehr, daß man alle Nase lang irgendwelche Bekannten wiedertrifft, sei es Leute aus vergangenen Bolivien-Tagen oder Nobel-Reisende à la „Pullmann de Luxe“.

 

14.8.   Samstag

Heute und morgen steht noch einmal „Inca total" auf unserem Programm, Den Anfang macht eine Festung mit dem unaussprechlichen Namen Sacsayhuaman, die hoch oben über Cuzco einst den am meisten gefährdeten Zugang zur Inca-Hauptstadt sichern sollte. Rund 70 Jahre lang haben hier 30000 Indios gebaut; und es geht die Sage, daß hier der berühmte Inca-Schatz ver­steckt sei.

Prospekte haben die Eigenart, immer ein wenig zu übertreiben, so daß man die im hiesigen Informationsblatt gedruckte Bezeichnung als „eines der Weltwunder" gelassen hinnehmen muß. Immerhin ist es schon toll, was hier vor Jahrhunderten mit primitivsten Mitteln geschaffen worden ist. Ungeklärt ist noch wie vor, wie man Felsblöcke von bis zu 350 Tonnen hat transportieren können, Nebenan breitet eine Jesus-Statue segnend ihre Arme über die Stadt aus, die man von hier oben in voller Größe überblicken kann. Nr.2 auf unserem heutigen Inca-Trip ist Kanko, einen knappen Kilometer weiter. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um einen Kult- und Festplatz mit vielen Spalten und unterirdischen Gängen, durch die man hindurchklettern kann. Während Conni draußen auf der Wiese ein Nickerchen hält, pirsche ich mich zur Haupthöhle vor, in die Sitze und steinerne Altäre geschlagen sind. Man vermutet, daß hier bei Ahnenfeiern Mumien eingelassen worden sind.

Nach soviel Kultischem packt uns der Ehrgeiz, und wir wollen nun auch die sechs Kilometer entfernten beiden nächsten Festungen noch erwandern. Wir vertrauen auf unseren Orientierungssinn und laufen querbeet bergauf, bergab, fern der Autostraße. Herrlich diese Stille und Einsamkeit; nur dann und wann begegnen wir einer Schaf- oder Lamaherde. Geheimnisvoll aussehende Höhlen könnten als Inca-Grabstätten gedient haben. Conni plagen während unseres langen Marsches die ersten Befürchtungen, wir müßten diese Nacht einsam in der Wildnis verbringen, als in der Ferne die Straße und ein Dorf auftauchen.

Laute Radiomusik klingt uns auf den letzten Metern bis zum Dorf entgegen. Die primitive Ortschaft besteht aus einigen wenigen Lehmbauten mit Strohdächern und einem Brunnen, aus dem Frauen und Kinder in großen Gefäßen Wasser schöpfen. Alles wirkt so, als hätte außer uns kaum je ein Fremder seinen Fuß hierhergesetzt. Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende gesponnen habe, holpert ein kleiner Touristenbus, vollbesetzt mit Franzosen heran. Die Businsassen schwärmen sogleich aus, um die „unberührte Idylle“ im Bild festzuhalten. Letztendlich profitieren auch wir von der fotogenen „Unberührtheit“ dieses Ortes, da wir auf diese Weise zu einem fahrbaren Untersatz wieder zurück nach Cuzco kommen. Die gesuchten Ruinen liegen eh ganz woanders; und außerdem können wir sogar mit den Franzosen zusammen noch an einem sehr schönen Foto‑Stop oberhalb von Sacsayhuaman teilnehmen.

Für den Abend habe ich Eintrittskarten zu einer Folkloreveran­staltung im örtlichen Colosseum besorgt. Die häßlich kahle und zudem eiskalte Halle als Colosseum auszugeben, ist schon vermessen. Aber schließlich haben wir Samstag Abend, und da sind wir für eine musikalische Abwechslung sehr dankbar. Angekündigt ist „la familia Rodriguez", die ganz unfamiliär erst mal fast eine Stunde auf sich warten läßt, Gut, daß wir vorher eine kleine Flasche Rum gekauft haben!

Endlich geht mit erheblichen Schwierigkeiten der Vorhang auf, und eine propere Großfamilie betritt unter großem Applaus das Parkett. Die Eltern und ihre acht Kinder stehen lächelnd in Reih und Glied, alle in rote Panchos gehüllt, und beginnen zu trällern. Die Trapp-Familie aus den fünfziger Jahren läßt grüßen. Immerhin wird nun tatsächlich südamerikanische Folklore aus verschiedenen Teilen das Kontinents gespielt, die sich sogar recht gut hören läßt. So richtig zur Gaudi wird die Sache aber erst, als die füllige Mama ihren Sopran ins Mikrofon ergießt, daß es einem durch Mark und Bein geht. Und gerade diese Stücke, die mehr an chinesische Oper als an lateinamerikanische Folklore erinnern, lösen beim Publikum frenetische Beifallsstürme aus. Auch wir klatschen emsig, denn es ist lausig kalt.

 

15.8. -  Sonntag             Cuzco - Pisac - Cuzco

Ganz früh schon machen wir uns auf, um einen Bus zum 30 km entfernt liegenden Ort Pisac zu erwischen. Am Dreh- und Angelpunkt von Cuzco, der Plaza de Armas, fährt uns einer gerade vor der Nase weg. Doch dafür treffen wir die luxemburgische Monique mit Francesco, ihrem italienischen Freund, mit denen wir ein Taxi für die Fahrt anheuern.

Pisac Im Urubambatal (siehe Macchu Pichu) ist bald erreicht und damit auch der berühmte Sonntagsmarkt, zu dem allwöchentlich die Jet-Set-Touristen aus Cuzco in Scharen pilgern sollen. Nachdem es zunächst ganz friedlich und ohne große Hektik zugegangen ist, läuft nun wirklich hier eine Kommerzshow ab, die einen das Gruseln lehren kann. Teppiche, Decken, Pullover, Kalebassen (aus Kürbis), Keramiken und dergleichen mehr wechseln zu horrenden Preisen die ungleichen Besitzer. Immerhin, fürs Auge und die Kamera gibt es einiges her.

Besonders reizvoll sind die Trachten der Einheimischen, genauer deren Kopfbedeckungen, die anders als in Cuzco, wo die Frauen weiße Zylinder tragen, hier eher an Obstschüsseln oder in Stoff gehüllte Frisbee-Scheiben erinnern. Im Anschluß an eine Messe in der armseligen Kirche warten alle (Kamera-) Augen gespannt auf den Umzug der Dorfältesten und Bürgermeister auch aus den Nachbargemeinden, die dann auch wirklich in ihren bunten Trachten mit reich verzierten Zeptern würdevoll eine Runde auf dem Marktplatz drehen. Entsprechend der besonderen Marienverehrung in Lateinamerika wird dazu eine überlebensgroße Marienfigur von sechs kräftigen Burschen über den Platz getragen.

Außer diesem Spektakel hat Pisac auch noch Zeugnisse der Inca-Zeit in Hülle und Fülle zu bieten.
Dazu heißt es zum Leidwesen Connis zunächst wieder Klettern, denn die meisten Anlagen befinden sich wie Sacsayhuaman oder Macchu Pichu auf Bergrücken, von denen man sich den besten Schutz vor Übergriffen versprach.
Nach etwa einer Stunde befinden wir uns hoch über dem Ort, der von hier wie ein Spielzeugdorf voller geschäftiger Zwerge aussieht. Wir erreichen die erste Ruine. Interessanter für uns, die wir nun schon soviel aus dieser Epoche gesehen haben, ist eine sagenhafte Terrassenanlage, die sich völlig gleichmäßig und symmetrisch den Hang hinaufzieht. Wie schade, daß sie heute nur noch als Touristenattraktion dient.

Immer wieder tauchen bei unserer Erkundungstour neue Ruinen auf, die uns mitunter als Schutz vor den plötzlichen Regenschauern sehr willkommen sind. Wahrscheinlich hat sich hier eine der wichtigsten Städte der Incas nach Cuzco von mehreren Quadratkilometern Ausmaß befunden.

Wir nähern uns einer Straße, auf der die gehfaulen Touristen heraufgekarrt werden, so daß wir bei wieder erschienener Sonne den Rückzug antreten.

Pisac wirkt mittlerweile wie ausgestorben, und wir sehen zu, daß wir ein Gefährt Richtung Cuzco erwischen. Als ein Kleinlaster hält, stürzen sich gleich Dutzende von Wartenden auf die Ladefläche. Auch ich bin nach einem kühnen Satz drauf, doch Conni hat Probleme beim Aufsteigen. Erst tritt ihr jemand auf die Finger, beim zweiten Anlauf schmeißt sie ein anderer ohne Skrupel von der Rampe, und schon ist der Karren voll. Wenn es ums Mitfahren geht, kennen die Peruaner kein Pardon. Der nächste Laster läßt nur eine viertel Stunde auf sich warten, und diesmal klappt es. Eingezwängt zwischen Menschen und Säcken legen wir die 30 km nach Cuzco in bewährter Manier zurück; und siehe da, wir überholen den Kleinlaster von vorhin, der wegen irgendeines Schadens liegengeblieben ist.

Ein Pollo (Hähnchen), Apfelkuchen, ein Pisco Sour und natürlich ein Coca-Tee füllen zum Abschluß des Tages unsere leeren Mägen.

 

16.8.   Montag

Unser preiswertes und relativ komfortables Hostal „El Alamo" (eigene Dusche!) bietet ganz schön viel fürs Geld. Im Preis eingeschlossen ist auch, daß früh um sechs öfter mal das Telefon im Zimmer dauerläutet, jemand hartnäckig an die Tür klopft oder plötzlich das Wasser unter der Dusche ausbleibt. Letzteres kann, wie heute morgen geschehen, bei eingeschäumtem Kopf doch recht problematisch sein.

Eigentlich wollten wir heute die noch ausstehenden Museen und Kirchen „abhaken“, doch „zwingende Gründe" lassen uns dieses Vorhaben nur z.T. realisieren.
Zunächst muß ein Alpaca-Pullover für Conni gefunden werden, was bei der Riesenauswahl nicht einfach ist. Bei manchen Verkäufern auf dem großen Indio-Markt, den wir alltäglich bei unserem Marsch ins Stadtzentrum passieren, erscheinen uns die Preisvorstellungen zuweilen leicht größenwahnsinnig. Aber am 100. (?) Stand ist es dennoch geschafft und der passende Pullover gefunden.
Nach einer leckeren Pizza wollen wir nur eben ins Büro der VIASA, unserer venezolanischen Fluggesellschaft, um unseren Rückflug nach Amsterdam für Freitag nächster Woche rückbestätigen zu lassen. Aus dem „eben" werden zwei Stunden, da man in Bonn einen Fehler beim Ausstellen meines Tickets gemacht hat. So lautet die eingetragene Rückflugroute nicht Lima - Caracas - Amsterdam, sondern Lima - Caracas – Lima!

Es bleibt zu hoffen, daß der Fehler in Lima vor unserem Abflug behoben werden kann.

Als wir das Reisebüro verlassen, ist es schon fünf, und so hecheln wir zum Regionalen Museum: geschlossen! Weiter zum Archäologischen Museum, wo uns eine halbe Stunde bleibt, um Inca-Figuren und -Töpferwaren, Handarbeiten aus der Nazca-Kultur sowie aufs Neue Mumien in allen erdenklichen Posen zu bewundern.
Zu weiteren Kirchenbesuchen sind wir nun also nicht mehr gekommen; aber da der Kolonialstil alle Gebäude so ähnlich macht, sind wir auch nicht sonderlich traurig. Unser Cuzco-Aufenthalt geht seinem Ende entgegen, und so ist heute Abend zum letzten Mal Shopping-Zeit.
Da das Feilschen beim Einkaufen hier dazugehört wie das Salz in der Suppe, erreichen meine Handelskünste langsam wieder Asien-Format. Nur eine sture Seňora macht es mir ein bißchen schwer, als wir einen gewebten Wandteppich mit Indiomotiv entdecken, der uns sehr gut gefällt und den wir nach zähem Ringen und gegenseitigem Austricksen dann doch noch etwas billiger be­kommen.
Des weiteres erstehe ich (noch) einen Pullover, dies­mal zum Sonderangebots-Festpreis von umgerechnet 10,50 DM. Da wiegt auch der Verlust eines Handschuhpaares nicht so schwer, das ich im Eifer des Gefechts irgendwo liegengelassen habe.

Auf dem Rückweg zum Hotel muß ich feststellen, daß es einfacher ist, etwas zu erwerben als etwas loszuwerden. Etwas zögernd gehe ich am Bahnhof „San Pedro“ auf eine junge Frau zu, die wie viele ihrer Leidensgenossen hier im Freien die kalten Nächte verbringt, und biete ihr meinen alten Sweat-Pullover als Geschenk an. Äußerst ungläubig und ver­unsichert nimmt sie diesen entgegen und beteuert fortwährend, kein Geld zu besitzen und nichts bezahlen zu können. Sogleich eilen neugierige Indios herbei, die sich über diesen Vorgang genau wie die junge Frau wundern. Wir stehlen uns heimlich davon.

Vielleicht habe ich mit meinem „guten Werk" wenigstens der Frau ein ganz klein bißchen geholfen und zugleich in meinem Rucksack etwas Platz gewonnen. Zur Information sei noch angefügt, daß bis zu 80% der Menschen in diesem Land keine oder zumindest keine feste Arbeit haben und daß die wahnsinnige Inflationsrate die Kluft zwischen Arm und Reich immer noch vergrößert.

Beim anschließenden Tagebuchschreiben erleben wir seit nunmehr einer Woche in der Snack Bar des Hotels dieselbe Szenenabfolge, die uns sehr belustigt: Als einzige Gäste sitzen wir bei Tee, Kaffee oder (gutem) Bier und schreiben; der Cassettenrecorder spielt wie immer dasselbe Band ab, obwohl die Geräuschkulisse aus der benachbarten Diskothek voll ausreichen würde, und der sehr bedächtig arbeitende Snack-Bar-Angestellte bedient uns im Zeitlupentempo, während er sich nach unserem Tagesablauf und unseren Vorhaben für den nächsten Tag erkundigt. Fast schon eine Zeremonie!

Wieder einmal hat es In Cuzco geregnet, und so präsentiert sich die Stadt bei unserem Abschied grau in Grau. Die triste Stimmung bestärkt uns in unserem Drang, wieder etwas Neues kennenzulernen und die Reise fortzusetzen.
Der Beginn dieser Fortsetzung verzögert sich beinahe schon erwartungsgemäß um zweiein­halb Stunden. So lange müssen wir auf den Abflug nach Ayacucho warten. Als es endlich gegen Mittag so weit ist, macht sich der Unmut einiger Leute aus der Schlange durch solche Drängelei Luft, daß es fast zu einer Prügelei kommt.
Wir ergattern einen Fensterplatz, doch leider reißt das Wolken­meer nur vereinzelt auf und läßt einige wenige Blicke auf die Andenkette zu. Bereits nach einer halben Stunde landen wir in Ayacucho; mit dem Bus hätte es 30 Stunden gedauertl

In Ayacucho Stadtmitte angelangt, hasten wir vorbei an der schönen Plaza zum nächsten Busbüro, wo wir eine rasche Entscheidung treffen müssen: Da der Fünf-Uhr-Bus nach Huancayo schon ausgebucht ist, stellt sich für uns die Frage, ob wir hier über Nacht bleiben, oder ob wir gleich mit dem Zwei-Uhr-Bus weiterfahren. Es ist genau zwei. Die Zeit bis zum Ende der Reise läuft uns nun etwas davon, und nicht zuletzt die Nachrichten von ständigen Guerilla­Überfällen mit Toten und Verletzten sowie die Warnungen von Reisenden, die wir in Cuzco getroffen haben, vor Angriffen auf Touristen erleichtern uns die Entscheidung.
Kurzent­schlossen springen wir in den zur Abfahrt bereitstehenden „Luxus"-Bus. 20 Stunden soll unsere Fahrt bis La Oroya dauern - offiziell! Es erübrigt sich fast schon zu erwähnen, daß offizielle Angaben hier nur selten etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Was uns aber nun blüht, bringt unsere Stimmung und unseren Zeitplan doch etwas ins Wanken. Von Regen schrieb ich ja schon zu Anfang dieses Tagesberichts; daß uns allerdings der für diese Jahreszeit untypische Dauer­regen ab Ayacucho einen gewaltigen Strich durch unsere Zeitrechnung machen würde, hätten wir nicht gedacht. Denn wer rechnet schon damit, daß die ganze Fahrt auf ungeteerter Erdpiste rauf und runter mitten durch die Anden führt, was bei plötzlich auftretender Nässe mit erheblichen Problemen verbunden sein kann.
In einer ansteigenden Kurve wären wir fast stehengeblieben; doch mit vereinten Kräften meistern Fahrer und Helfer die rutschige Lage. Dann, oh weh, folgt wenige Kilometer weiter der totale Kollaps. Mitten auf der schmalen Fahrbahn steht in dickem Morast ein Bus, der anscheinend nicht weiterkommt. Es ist dunkel, völlig einsam und kaum etwas zu erkennen. Eine ganze Weile warten wir noch hoffnungsvoll. Immer wieder wird der Motor gestartet, Lichtsignale gegeben. Es heißt, der Motor des anderen Busses sei heißgelaufen. Ein LKW von oben und noch einer von unten gesellen sich zu uns und machen das Chaos perfekt. Da der Fahrer keinerlei Anstalten macht, die Fahrt irgendwie fortzusetzen, im Gegenteil sich vergnügt schlafen legt, fühlen wir uns ganz schön verschaukelt. Auch die apathischen Indios holen ohne Murren ihre Decken hervor, und bald macht sich ein lautes Schnarchen breit.

Um die Situation zu erhellen, will ich meine Taschenlampe holen, steige aufs Dach des Busses und muß zu allem Überfluß feststellen, daß trotz Abdeckplane im Rucksack alles triefend naß ist.
Die Stimmungskurve fällt rapide, zumal die Besatzung gar nicht gewillt ist, uns und drei anderen Deutschen zu erklären, warum es erst „maňana
weitergehen soll; das einzige, was sie vor sich hinmurmeln, ist ein schnippisches „gringo, gringo". Wenig stimmungsfördernd ist auch die lausige Kälte, das ununterbrochene Blöken eines kleinen Schafes, das direkt neben meinem Platz angebunden ist, der elende Hunger (wir haben heute außer zwei Spiegeleiern noch nichts gegessen) oder die 1000 Gerüche, die durch den Gang strömen.
Trotz Ohropax ist an Schlaf nicht zu denken. Vor Kälte zitternd kuscheln uns Conni und ich aneinander und warten sehnsüchtig wie nie zuvor auf das Morgengrauen. Die ersten Lichtfetzen dringen durch das dunkle Wolkenband, und schon ist Leben im Bus.

Es dauert auch gar nicht lange, bis der Vorderbus flott gemacht ist und wir endlich unsere Fahrt fortsetzen können. Die Sonne blinzelt zwischen den Wolken hervor und läßt eine reizvoll bizarre Bergwelt um uns herum erröten. Wir denken schon, daß bei der schlechten Straße, die an steilen Abgründen vorbeiführt, unser Zwangsaufenthalt vielleicht gar nicht so verkehrt gewesen ist.

Doch ein Unglück kommt bekanntlich selten allein: Das nächste liegt wortwörtlich auf der Straße, von einer Menschenmenge umringt. Ein sicher überladener LKW ist in einer Kurve knapp vor dem Abgrund umgestürzt und blockiert mit seinen kunterbunten Waren die Straße. Eifrige Helfer sind mit dem Umladen von Gasflaschen, Schuhen, Batterien, Fahrrädern und Schokolade sicher noch einige Zeit beschäftigt, was uns Zeit zum Bewegen, Fotografieren und vor allem nach einem gewagten Wendemanöver zum Frühstücken in einem nahen Lokal gibt.

Andere, viel später abgefahrene Busse mit einigen Rucksack-Bekannten treffen ein, und die kostbare Zeit verrinnt. Ungewollt werden wir zu Zechprellern, als unser Bus ganz plötzlich losfährt und wir gerade noch reinspringen können. Der umgestürzte Laster blockiert immer noch die Straße, so daß es unser Fahrer nun wagt, das Unglücksauto zu umfahren. Um ein Haar wär’s ins Auge gegangen, da der Bus beinahe in einen Bach abgesackt wäre. Aber es gelingt schließlich doch.

Zwölf Uhr Mittag, und wir hoffen, wenigstens Huancayo heute noch zu erreichen. Der Ärger und die Müdigkeit sind schnell vergessen bei dem Super-Panorama, das uns nun ständig begleitet. In die steil abfallenden Schluchten und Täler sieht man besser nicht hinunter, dafür verdienen die so formenreich gefalteten Berge das Prädikat „grandios“. Auch die Vegetation wechselt je noch Höhenstufe ganz erstaunlich. Aber Huancayo, unser nun angepeiltes Etappenziel, ist noch fern. Ein zerfledderter Reifen muß gewechselt werden. Und als bei hereinbrechender Dunkelheit auch noch ein Schneesturm gegen die Windschutzscheibe prasselt, fürchten wir schon wieder um das Durchhaltevermögen des Fahrers.

Diesmal aber hält er stand, und nach sage und schreibe 30 Stunden erreichen wir durchgeschüttelt, halbtaub vom Motorenlärm und hundemüde Huancayo, eine 150 000 Einwohner-Stadt in 3200 m Höhe. In Gedanken stelle ich die 600 km, die wir gestern in einer halben Stunde per Flugzeug überwunden haben, den 300 km von Ayacucho nach Huancaya gegenüber, für die wir nun 30 Stunden gebraucht haben ...

 

19.8. - Donnerstag     Huancayo - Lima

Auf der Suche nach dem Schönsten, Größten, Besten können wir heute einen neuen Superlativ vermelden: die Fahrt mit der höchsten Eisenbahn der Welt, die je nach Ausgangspunkt von Huancayo nach Lima führt. Wegen der Buspleite der vergangenen zwei Tage haben wir unsere Pucallpa-Pläne ad acta gelegt und eine gänzliche Kurskorrektur vorgenommen.

Da wir insgesamt sparsam gewirtschaftet haben, ist noch genug Geld in der Kasse, um einen echten Urwaldabstecher nach Iquitos am Amazonas in unser Programm aufzunehmen. Wer weiß, ob wir bei einer Busfahrt in das Dschungeltiefland von Pucallpa nicht ein ähnliches Dilemma erleben würden wie gestern. So würden wir von Lima aus mit dem Flugzeug zum fernen Amazonas düsen.

Aber heute geht es erst einmal mit der Bahn weiter. Früh um halb sieben besteigen wir diesmal ganz ohne Hektik und fast schon mitteleuropäisch gelassen den Zug nach Lima. Und es darf gestaunt werden: Quarzuhrgenau um Punkt sieben verläßt dieser den Bahnhof von Huancayo. Die 300 km lange Fahrt ist einmal wegen Passierens des höchsten Punktes in 4781 m Höhe und zum anderen wegen Durchfahrens sämtlicher Höhenstufen bzw. Vegetationszonen innerhalb von „sierra“ (Bergland) und „costa“ sehr reizvoll. Und das innerhalb einer kurzen Strecke, so daß jedem Geographen das Herz höher schlagen muß.

Interessant ist vor allem der Übergang vom schneebedeckten Hochgebirge zur Puna bis hinab zur Yunga, dem Gebiet mit subtropischer Vegetation.

Zwischendurch können wir die einfallslos gebauten Bergbau­siedlungen um La Droya herum begutachten. Hier befinden sich die großen Kupfer-, Blei- und auch Silbervorkommen, deren Ausbeutung (häufig durch ausländische Firmen) in einer langen Leidensgeschichte hier wie auch in Bolivien unzählige Indioleben gekostet hat.

Genau beobachten kann man wenig später das Eintauchen in die durch den Humboldstrom bedingte Dunstglocke, die das Leben in Lima zu dieser Jahreszeit so unangenehm macht. Die peruanische Hauptstadt ist bald erreicht, und somit wäre die Peru-Bolivien-Rundreise eigentlich vervollständigt. Aber wir haben ja noch einiges vor.

Die Wärme in Lima tut uns nach soviel Hochgebirgsluft gut. Mit unseren Flugplänen haben wir Glück, denn wir bekommen auf Anhieb zwei Plätze bei Aeroperu nach Iquitos für morgen Mittag. Weniger glücklich verläuft unsere Hotelsuche, da bis auf die Absteige „Pacifica“ alle Billig-Hotels voll sind. Trotz spartanischer Verhältnisse und eines relativ hohen Preises nisten wir uns hier ein.

Ein totaler Stromausfall in der ganzen Stadt bringt noch einmal Abwechslung und sorgt um uns herum für mächtige Aufregung. Wir sitzen gerade in einem Lokal und amüsieren uns über die Ober, die sich mit Kerzen unverzüglich am Eingang postieren, damit niemand ohne zu bezahlen verschwindet. In Windeseile haben alle Händler ihre Läden fest verrammelt, und über die Stadt und die vorbeiziehenden Menschenmassen verbreitet sich bei totaler Dunkelheit eine sinistre, unwirkliche Untergangsstimmung. In der Ferne ist Sirenengeheul zu vernehmen, Polizeilampen blitzen durch die Nacht. 30 Minuten lang dauert der Spuk, in denen uns unsere Taschenlampe gute Dienste leistet. Vorsicht vor Dieben ist geboten. Als die Lichter wieder angehen, geht ein großes „Hallo!“ durch die Straßen. Uns fällt auf, daß gegenüber unserem letzten Aufenthalt hier vor über vier Wochen viel mehr Polizei und Militär mit MP’s in der Stadt patroulliert. Und die heftig gestikulierenden Verkehrspolizisten blasen auf ihren Trillerpfeifen noch hektischer als sonst. Wenn unsere Informationen stimmen, hat inzwischen ein fehlgeschlagenes Attentat auf den Präsidenten stattgefunden, und ein Supermarkt ist in die Luft geflogen. Also nicht nur in La Paz herrscht Krisenstimmung.

 

20.8. –  Freitag            Lima - Iquitos

Die Schlagzeilen sämtlicher Zeitungen werden von Meldungen über den gestrigen Stromausfall beherrscht. Gar nicht weit von da, wo wir uns befunden haben, ist eine Bombe hoch­gegangen und hat die Stromversorgung lahmgelegt. Massenweise Plünderungen sollen die Folge gewesen sein.

VIASA, unsere Linie für den Rückflug nach Amsterdam, macht es noch einmal spannend wegen der Falsch Eintragung in mein Ticket. Man vertröstet mich auf nächste Woche.

Das alles soll uns heute aber nicht mehr weiter kümmern, denn wir jetten nach ausgiebigem Aufenthalt in „costa“ und „sierra" nun in die „selva“, den peruanischen Amazonas-­Dschungel. Iquitos heißt unser Ziel, das mit so blumigen Attributen wie „Perle des Amazonas" oder „Schmetterling mit Regenbogen­flügeln über einer großen silbernen Schlange" (Goldstadt) versehen ist.

Mit der silbernen Schlange ist natürlich der wasserreichste Fluß der Erde, der Amazonas,  gemeint. Immer wenn ich im Erdkundeunterricht zu Hause meinen Schülern etwas über diesen gewaltigen Fluß, über das größte tropische Waldgebiet mit seinen Edelhölzern, den zweifel­haften Bau der Transamazonica, der Betonpiste durch den Dschungel, beizubringen versuchte, habe ich mir gewünscht, dies alles einmal in natura zu erleben.

Und nun bin ich nach nur eineinhalbstündigem Flug hier und genieße nach vierjähriger Tropenabstinenz die für viele so unerträgliche Treibhausluft. Nach der Kühle und Kälte der vergangenen Wochen erscheint mir die feuchte Schwüle wie ein warmer Segen. Am Flughafen warten bereits die obligatorischen Aufreißer (Hotel, Taxi, Seňor?), mit denen wir nicht viel im Sinn haben.

Beim Warten auf unser Gepäck kommen wir jedoch mit einem recht gut Deutsch sprechenden Peruaner ins Gespräch, der relativ schnell unsere Skepsis ausräumt und unser Vertrauen gewinnt. Er macht keinen Hehl daraus, daß er uns eine Dschungeltour vermitteln will - und schließlich ist es ja das, was wir suchen. Wir verlassen uns auf unser Gefühl und die überzeugend klingenden Lobreden anderer Traveller in einem dicken Buch, das uns Jaime, so sein Name, vorlegt. Außerdem wird er sogar im South American Handbook als hilfreicher Vermittler und Berater empfohlen. Voller Zuversicht steigen wir in seinen Jeep, mit dem wir bald die Stadt erreichen. Die erste gute Tat von Jaime ist die Empfehlung und das gemeinsame Aufsuchen eines Hotels, das in Ordnung und für hiesige Verhältnisse wohl noch recht günstig im Preis ist. Dann begeben wir uns in ein Lokal, wo wir zunächst das „Geschäftliche" abwickeln. Wir werfen allen guten Sparwillen über Bord und lassen uns zu einer Drei-Tage-Tour in den Dschungel mit allen Rafinessen verführen. Preislich liegen sämtliche Veranstalter auf demselben Level, so daß wir wiederum auf Jaimes guten Riecher bauen.  Erfreulicherweise erzielt er bei der ausgewählten Organisation sogar einen Preisnachlaß. Immerhin werden wir auf diese Weise trotzdem noch insgesamt 210 Dollar los.

Sonderlich behagt es uns nicht, uns einer organisierten Sache anzuschließen, aber hier gibt es offenbar keine Alternative, Daß das Preisniveau von Iquitos gegenüber anderen peruanischer Städten zudem sehr hoch ist, bekommen wir bald erneut zu spüren. In einem Lokal oberhalb des Amazonas lassen wir die Speisekarte angesichts der Preise erschrocken zurückgehen und bestellen nur einen Kaffee und ein kleines Bier. Die Rechnung hinterher verdirbt uns förmlich den an sich großen Appetit, denn jedes Getränk kostet 900 Soles = 3.20 DM!

Nicht zu Unrecht schreibt das HandbookIquitos is the most expensive town in Peru“. Zurück zu unserem Freund Jaime, der Deutsch übrigens am Humboldtkolleg in Lima gelernt hat. Wie verabredet treffen wir uns in einem Straßenlokal wieder, wo wir bei einer Cola nicht nur das knallrote Abendrot bewundern, sondern uns auch sehr angeregt über den Film „Fitzcaraldo“ von Werner Herzog unterhalten, der zu einem großen Teil hier gedreht wurde. Zweimal habe ich mir den Film vor unserer Reise mit großer Begeisterung im Kino angesehen; und nun treffe ich jemand, der nicht nur die Dreharbeiten und das ganze Drum und Dran miterlebt hat, sondern der selbst sogar in drei Szenen mitgespielt hat. Gefesselt folgen wir den Ausführungen über den Machtkampf der beiden „Verrückten" Werner Herzog und seinem Hauptdarsteller Klaus Kinski, über die „alte" Claudia Cardinale und den Riesenwirbel, der hier veranstaltet wurde. Mick Jagger, der Kopf der Rolling Stones, sollte eigentlich auch mitspielen, hat sich dann aber doch noch rechtzeitig „abgeseilt“. Immerhin hat er sich noch in Jaimes Vorzeigebuch eingetragen. Insgesamt haben die Dreharbeiten zu dem Film über ein Jahr gedauert, eine Zeit, die sich im Hinblick auf die Qualität des Films sicher gelohnt hat.

Kurz der Inhalt: Fitzcaraldo, ein erfolgloser, verlachter und etwas verrückter Geschäftsmann will groß ins Kautschukgeschäft zu Beginn dieses Jahrhunderts einsteigen. Er hat einen tollkühnen Plan: Um die Kautschukwälder an einer unzugänglichen Stelle nutzen zu können, will er vom Ucayali aus, einem Zufluß des Amazonas, eine Verbindung zu einem anderen Fluß schaffen, indem er mitten im Indianergebiet sein Schiff über einen trennenden Berg befördern lassen will. Das Vorhaben erscheint wahnwitzig, aber mit ungeheurer Energie, genialem Einfallsreichtum und nicht zuletzt der Musik Carusos, die Fitzcaraldo in den Augen der Indianer zu einem Halbgott macht, gelingt es. Mit dem Geld, das sich der Geschäftsmann von seinem Projekt erhofft, will er in Iquitos nach dem Vorbild von Manaus in Brasilien eine Oper bauen lassen. Nach dramatischem Ablauf der Aktion scheitert er letzten Endes, weil er die Gedanken und Absichten der Indianer nicht ins Kalkül gezogen hat, Aber was besagen viele Worte - ich glaube, ich werde mir den Film ein drittes Mal ansehen.

 

21.8. –  Samstag                 Iquitos - Tamshiyacu Lodge

Eine „unvergeßliche, schöne Erfahrung" nennt unser Prospekt die Fahrt in den Dschungel, die wir heute morgen mit Umhänge­tasche und Plastiktüte antreten. Lassen wir uns überraschen, was die Tamshiyacu Lodge an „Erfahrungen“ für uns parat hält.

Mit neun anderen Fahrgästen starten wir in einem schnellen palmblätterüberdachten Motorboot das etwa zweieinhalb Stunden lang durch braune Amazonas Brühe fährt, Der riesige Fluß ist so verzweigt, daß es zwischendurch schwerfällt zu erkennen, ob man sich auf dem Amazonas oder einem seiner vielen Neben- oder Zuflüsse befindet. Gelegentlich begegnen uns längliche Boote mit Außenbordmotoren, die anzeigen, daß der Fluß  d i e  Verkehrsverbindung darstellt. Als Iquitos außer Sichtweite ist, verdichtet sich der die Ufer säumende Dschungel merklich. Nach einer Abzweigung in einen kleineren Flußarm gelangen wir bald zu unserer Lodge, die auf Pfählen errichtet ist und sich harmonisch in das Landschaftsbild einfügt. Nach Anlegen an Land werden zunächst die einfachen, aber zweckmäßigen Zimmer zugewiesen.

Dann ist Essenszeit. Bei dem hohen Preis schlagen wir bei gebackenem Fisch, Reis und verschiedenen Gemüsesorten (inklusive dem leckeren Palmenkraut) doppelt kräftig zu. Eine Riesenspinne, ein Leguan, ein Frosch und ein zutraulicher Papagei begleiten unser Freiluftmahl. Zu einer kleinen Siesta werden die bequemen Hängematten mit Ausblick auf den Fluß und einen benachbarten kleinen See getestet.

Dann soll es zu den Yagua-Indianern gehen, die nicht weit von hier eine kleine Siedlung errichtet haben. Vor allem für die fein gekleideten peruanischen Damen unserer Gruppe ist es gar nicht so einfach, dem schmalen Dschungelpfad durch matschiges Gelände, das zu Ausrutschern geradezu einlädt, zu folgen.

Viel schneller als gedacht ist das „Dorf“ erreicht. Hier erwartet uns eine Komödie, die man auch als Tragödie ansehen kann: Auf einer Lichtung stehen drei Hütten; etwas Landwirtschaft ist angedeutet, und vor der Hütte des „Dorfoberen" steht in ganz reizender Verkleidung ein Indianer mit Bastrock und Kopfschmuck ebenfalls aus Bast, das Gesicht rot bemalt. Kurz vor unserem Eintreffen haben wir soeben noch mitbekommen, wie sich die anderen „normalen" Dorfbewohner in einen fernen Winkel verzogen haben und sich die „Original-Yagua-Familie" schnell in ihre Folklorekluft geworfen hat. Auf diese Weise soll uns Touristen ein Eindruck vom „ursprünglichen" Leben dieser Indianer vorgegaukelt werden. Der Clou ist die Indianer-Mutter, die - natürlich fotogerecht – „oben ohne“ zu bewundern ist, während Jeans und Cassettenrecorder versteckt in der Ecke liegen. Den Höhepunkt der Show bildet ein Tanz der beiden Alten zu den schiefen Klängen von Flöte und Trommel, für den im Anschluß selbstredend gelöhnt werden muß. Die Situation ist einfach grotesk. Auch der Verkaufsstand mit Ketten, Blasrohren sowie Pfeil und Bogen darf da nicht fehlen. Die Damen unserer Gruppe werden noch bunt bemalt, und nach abschließendem Gruppenfoto mit allen Beteiligten marschieren wir mit einem Gefühl zurück, das sich aus Belustigung, Ärger und schlechtem Gewissen zusammensetzt. Beim Anblick solcher Dagenerationserscheinungen wird spätestens deutlich, welch fatale Folgen die angeblich so segensreichen Einflüsse der Zivilisation und des Tourismus für diese Menschen mit sich bringen.

Da lobe ich mir schon eher das erfrischende Bad im Fluß, das ich trotz aller Piraňha-Warnungen lebend und unversehrt überstehe. Außer Conni und mir, einem weiteren deutschen (oder besser bayerischen) Paar und einem Franzosen verlassen am Spätnachmittag alle übrigen Gäste wieder das Camp, was uns im Hinblick auf morgige Dschungelwanderung sehr freut.

Als wir nach dem Abendessen unseren netten Wegführer Carlos auf den Prospekttext aufmerksam machen, in dem von einem nächtlichen Kanuausflug die Rede ist, erklärt er sich nach anfänglichem Zögern bereit, mit uns ein wenig durch die sternenklare Nacht zu schippern. Das Boot ist sehr wackelig, aber es bereitet schon einen Mordsspaß, durch enorm große Seerosen hindurch, vorbei an schwarzem, unheimlichem Wald, begleitet von vielen, zum großen Teil undefinierbaren Geräuschen aus dem Dschungeldickicht durch das Dunkel zu paddeln. Gelegentlich springen kleine Fische ins Boot, die gleich wieder zurück ins feuchte Element befördert werden. Der eindrucksvolle Ausflug dauert etwa zwanzig Minuten.

Als ich diese Zeilen schreibe, warten Mengen von Minivampiren, genannt Moskitos, blutrünstig auf eine Gelegenheit, mich anzuzapfen. Ich hoffe, es ihnen so schwer wie möglich machen zu können, Autan und ein weißes Moskitotuch über dem Bett werden mir dabei behilflich sein.

 

22.8. -  Sonntag

So ein Frühstück lasse ich mir gefallen: Neben Weißbrot, Marmelade und Tee gibt es sehr schmackhafte Papaya, Ananas und Orangen, soviel man will. Carlos und sein „Lehrling" Manrique führen uns und die beiden Bayern dann programmgemäß einen schmalen Urwaldpfad, was sich zu einer Wanderung mit sachkundigen Erklärungen von über drei Stunden ausweitet. Riesenbäume (z.B. Palisander), Epiphyten (Schlinggewächse), Orchideen und andere Schmarotzerpflanzen, Palmen, Kautschukbäume, Ananasgewächse, Bromelien und vieles mehr säumen unseren zuweilen steil bergauf und bergab führenden Weg. Mehrere Lianenstränge verleiten uns zu Kletterpartien und Tarzanschwüngen.

Bei all der prächtigen Flora nimmt sich die Fauna leider etwas mickrig aus. Außer ein paar beachtlich großen und bunten Schmetterlingen gibt es noch einige Termitenhaufen zu bestaunen, doch dann ist schon Ebbe. Wir sind halt nicht in der Serengeti. Carla glaubt, eine große Schlange erkannt zu haben, selbige bleibt unseren Blicken aber verborgen. Wir kommen an einer leeren Schule vorbei - bei dem Klima hier natürlich alles „open air" - wo nur ein paar Bänke und eine Tafel die Existenz der Schule dokumentieren.

Als wir müde vom schweißtreibenden Laufen unsere Lodge wieder erreichen, kommen gerade die nächsten Gäste an. Es sind hauptsächlich junge Österreicher, die aus Brasilien kommend, auf dem Flughafen von Freund Jaime angeworben worden sind. Nach dem wiederum sehr guten Mittagsmahl, bei dem Conni alle Eßrekorde schlägt, vertreibe ich mir mit dem ganz zahmen und verspielten Papagei die Zeit, mit Dösen in der Hängematte, süßem Nichtstun und Zuschauen beim Abschied des bayerischen „Komödienstadls".

Dann ein Schock beim Durchsuchen meiner Fototasche: Der während der Wanderung gewechselte Film ist weg! Alles Suchen nützt nichts, der Film mit den so wertvollen Erinnerungen bleibt verschwunden. Ich könnte platzen vor Ärger. Eine winzige Hoffnung bleibt mir, da ich morgen mit der neu angekommenen Gruppe denselben Weg noch einmal, denn aber mit Argusaugen abschreiten werde. Der Verlust läßt mich die kurz vor Sonnenuntergang durchgeführte Paddeltour über den angrenzenden See nur mit halbem Herzen genießen. Doch wie angenehm ist die herrliche Ruhe, die durch kein Radiogeplärre und kein Kommerzfernsehen unterbrochen wird.

 

2.8. -  Montag           Tamshiyacu - Iquitos

Meine Hoffnung erfüllt sich nicht, die „Grüne Hölle“ gibt meinen Diafilm nicht mehr preis. Obwohl wir zusammen mit Manrique den langen Weg sorgfältig absuchen, einige besonders in Frage kommende Stellen unter die Lupe nehmen, bleiben unsere Bemühungen ohne Erfolg. Nun, jedenfalls schnuppern wir auf diese Weise erneut Dschungelluft und erfreuen uns der grünen Pracht, die uns gar nicht so „höllisch“ vorkommt. Um wenigstens später zu Hause beweisen zu können, daß wir bei „echten“ Indianern gewesen sind, begleite ich am Nachmittag auf matschigen Pfaden die nächsten Neuankömmlinge auf ihrer Expedition zu den Yaguas. Diesmal hat sich eine andere Indianerfamilie das Bastkostüm übergezogen, die Schau aber ist die gleiche.

In unserer Lodge bewundern wir später noch eine Boa, die, kurz, nachdem sie eingefangen worden ist, aus unerfindlichen Gründen das Zeitliche segnet. Flinke Hände ziehen ihr die Haut ab und nageln selbige als Souvenir auf ein Stück Holz. Nicht viel besser geht es drei frisch in meinem Badewasser geangelten Piraňhas, die uns aufgespießt und mit geöffneten Mäulern zum Abschied anlachen.

Am späten Nachmittag brausen wir Im Eiltempo zurück nach Iquitos, das wir kurz vor Sonnenuntergang anlaufen. Ein Deutscher, der sich über unsere Tour informieren will, erwartet uns schon. Während wir von unseren Erlebnissen berichten, suchen wir gemeinsam ein Hotel auf und ziehen dann zu einem letzten Abendbummel noch einmal los. Jaime treffen wir diesmal nicht, dafür aber seinen etwas abgewrackten amerikanischen Freund, der ein Dosenbier nach dem anderen in sich reinschüttet und reichlich wirres Zeug in seinem kaum verständlichen Texas-Slang erzählt. Fast könnte man glauben, Iquitos sei ein Ort gestrandeter Existenzen, denn auf unserem Rundgang über den abendlichen Markt begleitet uns ein Italiener, der ohne Geld in der Tasche irgendwie nach Lima kommen will. Hoffentlich nimmt er den etwas naiv wirkenden deutschen Studenten nicht aus. Auf der Plaza „28 Julio" bilden sich Menschentrauben um einen Feuerschlucker und eine Folkloregruppe, die es anscheinend aus den Anden hierher verschlagen hat. An einem Obststand erkundige ich mich nach dem Preis für eine Orange und kann bei dem genannten Preis nur verständnislos mit dem Kopf schütteln. Sie soll 500 Soles kosten, das sind 1,75 DM.

 

24.8. -  Dienstag      Iquitos - Lima

Gestern noch ein herrlicher Sonnentag, heute regnet es zunächst in Strömen. Bei einer „Chicha“, einem Maisbier, das nach reinem Traubensaft schmeckt und dessen Gärungsprozeß angeblich durch die Spucke von Indiofrauen erzeugt wird, versuche ich, mir vorzustellen, wie es hier zur Regenzeit aussieht. Dann nämlich steigt der Amazonas um 12 Meter an, was für Belen. einen Stadtteil von Iquitos bestimmt einen großen Vorteil hat: Sozusagen als kostenlose Müllbeseitigung wird dann endlich der viele Unrat, der sich hier zur Trockenzeit angesammelt hat, weggespült. Momentan ist Trockenzeit (trotz des Regens), wovon wir uns beim Anblick unglaublicher Abfallberge vor Ort überzeugen können, Schweine und Aasgeier teilen sich die fette Beute.

Neugierig durchwate ich die auf Pfählen stehende, zur Regenzeit „schwimmende Stadt", passiere eine große Schule und komme, wenn ich die Sirengesänge einiger junger hübscher Amazonen richtig deute, an einem Bordell vorbei. Ich wage auch ein paar Fotos, allerdings nicht von besagter Absteige. „Meine Amazone“ wartet derweilen unruhig auf sichererem Terrain.

Wir müssen schon für den Rückflug nach Lima rüsten. Noch einmal geht es über den langgestreckten Markt mit Früchten und Fischen tropischer Provenienz, dann durch die hektische Hauptstraße voller Motorradtaxen und Motorräder, die bei diesen Temperaturen hier wirklich praktisch sind. Allerdings scheint der motorisierte Verkehr in den Straßen von Iquitos noch konfuser und rücksichtsloser als in anderen Gegenden Perus. Dafür wirken die hiesigen Bewohner aufgeschlossener; besonders die meist recht hübschen Frauen geben sich viel freier. Vielleicht ist das auch eine Folge der Bedeutung Iquitos’ als Hafenstadt; denn hier ist via Amazonas auch der einzige Zugang Perus zum Atlantik, der jedoch noch 3500 km weit weg ist. Bestimmt spielen auch die steigenden Ölförderungszahlen keine untergeordnete Rolle.

Wir erwischen auf Anhieb einen Bus zum Flughafen, wo wir pünktlich um drei eintreffen. „Grupo 8“ heißt unsere Fluggesellschaft, die eigentlich nur Militärtransporte, zweimal in der Woche aber auch Passagierflüge nach Lima durchführt. Jaime hatte uns den Tip gegeben, der uns gegenüber dem Aeroperu-Tarif die Hälfte des normalen Preises einspart. Bei „grupo 8“ soll es zwar regelmäßige Verspätungen um mehrere Stunden geben, aber das Warten ist uns ja nicht ganz neu.

Als wir in der Flughafenhalle sitzen und warten, taucht ganz unvermutet noch einmal der „Komödienstadl" auf, der bei Aeroperu gebucht hat. Wesentlich erfreuter sind wir beim Anblick Jaimes, der auf Kundschaft wartet und uns durch seine angenehme Gegenwart die lange Wartezeit erheblich verkürzt. Er bestätigt die aus Schlagzeilen flüchtig mitbekommene Meldung, wonach bei Ayacucho in einem Feuergefecht zwischen Polizei und Terroristen 42 Menschen umgekommen sind. Bei diesen permanenten Terrormeldungen komme ich mir fast wie ein Sensationsreporter der BILD-Zeitung vor. Aber im Moment muß es wohl schlimm sein, wie lange nicht mehr.

Für seine Bemühungen um unser Wohlergehen schreibe ich Jaime noch eine kurze Lobrede in sein Vorzeigebuch für die nächsten Touristen und schenke ihm zum Abschied noch ein Konversationslexikon, das er für seine Arbeit bestimmt gut gebrauchen kann.

Um zwanzig vor acht sitzen wir endlich in der grupo 8-Propellermaschine, die unter ohrenbetäubendem Getöse startet. Mit Blick auf die Uhr flachsen wir, daß sich die Bezeichnung grupo 8 u.U. auf die Zeit des Abfluges bezieht (auch wenn die offizielle Startzeit 16.00 h lautet). Jedenfalls befinden wir uns nun im dunklen Bauch des großen antiquierten Vogels zusammen mit ca. 50 Passagieren, die sich in jeweils zwei Reihen auf hängemattenartigen Sitzbänken aus Leinen vis-à-vis gegenübersitzen. Gleich nebenan steht ein PKW, und alles macht einen äußerst urigen Eindruck.

Für die 1500 km zurück nach Lima benötigt das viermotorige Flugzeug etwas mehr als zwei Stunden. Mindestens tausend aufdringliche Aufreißer preisen nach unserer Ankunft inbrünstig ihre Taxidienste an, doch wir kämpfen uns glücklich bis zum Hotelvermittlungsdienst durch. Die nette Dame und ihre Helfer telefonieren sich für uns die Finger nach einer im Preis erträglichen Unterkunft wund, aber nichts zu machen. Schließlich ist es auch schon elf Uhr nachts. Also lassen wir uns vom Aeropuerto-Bus in die Innenstadt fahren, wo wir es bei Seňora Ibarra versuchen, einem von Rolands Spezialtips. Die Seňora ist nicht zu Hause; trotzdem kommen wir zu einem Zimmer, wenn auch zum teuersten auf der ganzen Peru-Bolivien-Tour. Dafür dürfen wir dann aus dem 15. Stockwerk Lima bei Nacht bewundern.

 

25.8. -  Mittwoch           Lima - Pisco

Unsere diversen Aufenthalte in Lima sind eher als Stipvisiten zu bezeichnen. So auch diesmal: Nichts hält uns hier in dieser Riesenstadt unter der ständigen Dunstglocke, und so geht es schon heute Nachmittag weiter nach Pisco, 250 km nach Süden an den Pazifik.

Zuvor findet das Rätselraten um mein verkehrt ausgestelltes Rückflugticket und die Frage, ob es mit der Änderung noch klappt oder nicht, ein Ende. Es fällt zu Ungunsten der Esloher Schüler aus, die sich sicher gefreut hätten, wenn ich der Schule noch einige Tage ferngeblieben wäre. Ohne weitere Komplikationen bekomme ich einen ganz neuen Flugschein.

Und dann, wie gesagt, frönen wir schon wieder unserer Reiseleidenschaft und sitzen im nächsten Bus nach Pisco auf der „Panamericana Sur“ , einem Teil der berühmten „Traumstraße der Welt". Bis auf einen Tag genau vor fünf Wochen sind wir hier schon einmal langgebraust (siehe vorne), haben dabei aber einen von so vielen Travellern gepriesenen Leckerbissen übergangen. Es handelt sich um die Ortschaft Pisco und die ihr vorgelagerte Halbinsel Paracas sowie die Ballestra-Inselgruppe, auf der es seltene Tiere zu beobachten geben soll.

Nach den enormen Busstrapazen in den Anden erscheinen die dreieinhalb Stunden auf geteerter, z.T. vierspuriger Straße wie ein Kinderspiel. Ein billiges Kakerlaken-Hotel ist schnell gefunden, und bei einem Rundgang durch den Ort, aus dem der schon mehrfach erwähnte Pisco Sour stammt, gefallen uns besonders die phantasievoll angelegte Plaza und das Rathaus, das in seiner verschnörkelten Verspieltheit und den kräftigen Farben an einen orientalischen Palast erinnert.

Wir haben nur noch zwei Tage bis zum Rückflug, der Countdown läuft also, und somit ist, fast wie verabredet, das Abschlußtreffen mit Travellern von den verschiedensten Stationen unserer Reise eingeläutet. Sehr überraschend ist das Wiedersehen mit jenem Amerikaner, mit dem wir vor zwei Wochen von Yunguyo über Puno bis Cuzco gefahren sind (Stichwort "Walkman"). Ein starker Pisco Sour läßt Erinnerungen wieder aufleben, und eine leckere Palta beschließt den Abend. Palta, eine zumeist mit Kartoffelsalat gefüllte Avocado, ist übrigens mittlerweile zu unserer Lieblingsspeise avanciert.

 

26.8. -  Donnerstag                 Pisco - Lima

Das zweite Überraschungswiedersehen findet früh um sieben statt, während wir auf einen Bus nach Paracas warten. Zwei nette Franzosen, mit denen wir vor drei Wochen den Chacaltaya bei La Paz im höchsten Skigebiet der Welt erklommen haben, sind nach gänzlich unterschiedlichem Reiseverlauf auch hier gelandet, um nun dieselbe Bootstour wie wir zu machen.

Bei immer noch häßlich dunstgrauem Wetter tuckert das Boot mit 20 Insassen zunächst an der Halbinsel von Paracas vorbei. Gelassen und ohne sich im mindesten von uns stören zu lassen, stolzieren hier Scharen von Pelikanen einher, die mit ihren überdimensionierten Schnäbeln wirklich lustig anzusehen sind. Zahlreiche andere Vogelarten nisten in schroffen Felsvorsprüngen. Besonders eine Vogelart - ich glaube, es sind Kormorane, sorgt für Heiterkeit und Beifallsbekundungen, da sie, Kamikaze-Fliegern gleich, während des Flugs plötzlich fast senkrecht wie ein Stein vom Himmel fällt, ins Wasser eintaucht und gelegentlich mit Fischbeute wieder an der Oberfläche erscheint.

Eine Attraktion ganz anderer Art ist ein sog, „Kandelaber", der groß und deutlich in einem Sandsteinfelsen vor uns liegt. Es handelt sich dabei um eine riesige, in den sandigen Untergrund gescharrte Nazca-Zeichnung, die Däniken als Anflugzeichen für Weltraumwesen gedeutet hat. Seriösere Wissenschaftler gehen eher davon aus, daß dieses Symbol einer Standleuchte Teil eines astronomischen Kalenders oder ein Hinweiszeichen für die Seeschiffahrt gewesen ist.

Aber zurück zu unserem Tierschutzgebiet, das allein schon einen Ausflug wert ist. Nach längerer Bootsfahrt tauchen aus den Dunstschwaden die ersten Umrisse der Ballestra-Inseln auf. Die See hat hier so gewütet, daß die Fundamente der Inseln fast zerstört sind. „Wie gigantische Plattformen stehen sie auf gewaltigen Felssäulen, zwischen denen die See zu kochen scheint“ (Original-Text Goldstadt).

Und da liegen sie nun faul auf den Felsen, robben sich mühsam vorwärts, spielen miteinander, gröhlen laut oder schwimmen purzelbaumschlagend und vorwitzig neben unserem Boot her: Es handelt sich nicht um eine Mallorca-Idylle, sondern um eine ausgediente Seelöwenkolonie. Sie stellen eine solche Motivattraktion dar, daß man aus dem Fotografieren gar nicht mehr herauskommt. Außerdem schwirren unzählige Vögel umher, daß man sich in Hitchcocks „Die Vögel" versetzt fühlen könnte. Ein wertvolles „Abfallprodukt" dieser nistenden und mistenden Tiere ist der unüberseh- und riechbare Guano. Sehnsüchte nach den gar nicht so fernen Galapagos-Inseln werden geweckt.

Nach Umfahren der gesamten Inselgruppe schippern wir zurück zum Festland. Ich bin froh, daß der Pazifische oder auch Stille Ozean seinem Namen heute alle Ehre macht, denn das Wasser ist absolut ruhig. Mir war vorhin schon so schummrig, daß ich bei Seegang für nichts hätte garantieren können. Etwas ärgerlich nimmt die Bootsbesatzung zur Kenntnis, daß uns die versprochenen Flamingos auf einer der Nachbarinseln vorenthalten worden sind. Es heißt, dafür hätten noch einmal 500 Soles extra berappt werden müssen...

Ansonsten klappt alles wie am Schnürchen. Schon um halb zwei sitzen wir wieder im Bus nach Lima.

Nach der Ankunft schnell noch 20 Dollar gewechselt und einige Souvenirläden inspiziert. Leider ist hier alles viel teurer als z.B. in Puno oder Cuzco,

Im „La Merced", der Globetrotterabsteige, werde ich von der dort residierenden Seňora bitterlich enttäuscht. Wir hatten ein Zimmer bzw. zwei Betten reservieren und gestern vor unserer Abfahrt extra noch mal bestätigen lassen, und nun erweisen sich Connis Befürchtungen als richtig: Es heißt schlicht und ergreifend „completo“.

Ein Tramp erzählt uns, daß auch sonst in der Stadt alles voll sei. Doch wieder einmal ist uns das Glück hold. Im benachbarten Hostal „Union" ist immerhin e i n Bett frei. Das französische Pärchen, das in dem Zimmer mit dem noch freien Bett nächtigt, sieht nicht gerade begeistert aus, ist aber schließlich einverstanden, daß wir den kleinen Raum mit ihm teilen. So werde ich diese letzte Nacht in Peru also auf dem Fußboden verbringen. Aber wir sind ja froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.

Nun haben wir noch etwas Zeit, die letzten Mitbringselbesorgungen zu tätigen, als ich zunächst vor Angst erstarre: Auf der vor Menschen überquellenden „Union", der Haupteinkaufstraße, bricht fast eine Panik aus. Menschenmassen laufen plötzlich in Aufruhr und schreiend genau in die Richtung, aus der wir gerade kommen. Ich sehe nur Polizei am Straßenende, etwas brennt und qualmt fürchterlich, und ich denke wie wahrscheinlich die meisten flüchtenden Leute, daß gemäß der terroristischen Bedrohung jeden Augenblick eine Bombe hochgeht. Conni hat diese Befürchtung wohl nicht, denn sie bleibt zunächst stehen, läßt sich von den panischen Massen überholen und bewegt sich dann langsam in die andere Richtung, während ich vor einem Bankeingang vor Angst und Zorn fast vergehe.

Das Scheppern der Blechverschläge signalisiert, daß die Geschäfte wie letzte Woche beim Stromausfall sofort die Schotten dichtmachen. Der erste Löschwagen ist im Anzug.

Nach und nach beruhigt sich die Lage wieder, als deutlich wird, daß wohl wirklich nur ein Schwelbrand Ursache der Aufregung gewesen ist. Sicherheitshalber schlagen wir einen anderen Weg ein; mein Herzklopfen verflüchtigt sich nur langsam.

Beim Kauf eines kleinen, handbemalten Tondöschens sitzt mir der Schreck immer noch in den Gliedern und wird kaum geringer, als ich in meinem Portemonnaie fortschreitende Ebbe feststellen muß. Prompt lasse ich das schöne Stück fallen und muß mich nun mit einem Scherbenhaufen begnügen. Dann holen wir bei Seňora Ibarra (die mit der teuren Pension) unsere dort deponierten Rucksäcke ab.

Auf dem Rückweg zu unserem Ein-Bett-Hostal kehren wir in einem Lokal ein, um noch einmal in aller Ruhe eine Palta zu genießen. Und leider, wie schon so oft auf dieser Reise, heißt es stereotyp „no hay“ - ist nicht mehr da, haben wir nicht. Ein Nudelgericht für zwei tut's schließlich auch. Neben uns unterhalten sich in einer Runde sehr theatralisch und überlaut ein paar Männer, die es in ihren angeregten Gesprächen aber nicht bei Gestik, Mimik und Lautstärke belassen, sondern zwischendurch immer wieder donnernde Arien zum besten geben. Daß dazu aller Abfall auf den Boden geworfen und kräftig gerotzt wird, muß man einfach ignorieren. Allerdings wäre heute Nachmittag ein Ober fast auf einem solchen glitschigen Fladen ausgerutscht.

Noch einmal treffen wir unseren amerikanischen Freund und schleichen uns dann hundemüde in unser Nachtquartier, in dem die beiden Franzosen schon selig schlafen.

 

27.8. - Freitag / 28.8. - Samstag    
Rückreise: Lima - Bogota - Caracas - Madrid - Paris - Amsterdam – Wenholthausen

 Der Abschied von Peru und das Ende unserer Südamerikatour nahen. Vieles hier ist uns richtig vertraut geworden, wovon die Anden mit ihrem besonderen Charme, der völlig gegensätzliche Dschungel und die endlose Wüstenlandschaft die tiefsten Eindrücke hinterlassen haben. Nicht zu vergessen die Indios in ihrer lethargischen, etwas unnahbaren Mentalität, die vielen geschichtlichen und kulturellen Sehenswürdigkeiten und nicht zuletzt das unnachahmliche Maňana-Denken hier, das uns bei scheinbar endloser Warterei immer wieder Gelegenheit gab, die Gewohnheiten der Einheimischen zu studieren, Tagebuch zu schreiben oder, wie in Connis Fall, ganze Pullover zu stricken. Sicher gibt es noch soviel mehr anzusehen, so z.B. der ganze Norden Perus mit Trujillo oder Huarez; aber im Rahmen einer sechswöchigen Tour haben wir ja wirklich viel gesehen und erlebt, ohne nur von Ort zu Ort gehastet zu sein. Wir haben uns überlegt, daß Nordperu, Galapagos und Ekuador, von dem uns während der Fahrt von mehreren Travellern sehr vorgeschwärmt worden ist, lohnendes Ziel einer gesonderten Sommerferienreise sein könnte ...

Aber das ist Zukunftsmusik - noch sind wir ja in Peru und sehen zu, daß wir auch die letzten Stunden in diesem Land gut über die Runden bringen. Nach einigermaßen passabler Übernachtung auf dem Fußboden von besagtem Billig-Hotel bekommen wir ziemlich bald eine Fahrgemeinschaft zum Flughafen zusammen mit anderen Deutschen, die mit langen Blasrohren vom Amazonas, Wandteppichen, Webbildern und vielem mehr alle Ritzen des Wagens füllen.

Auf dem Flughafen heißt es erst mal wieder Schlange stehen. Es geht nur schleppend vorwärts mit dem Einchecken; der Flug Ist vollbelegt. An einem anderen Stand müssen pro Person 10 Dollar „Airport-Tax" bezahlt werden, eine in unseren Augen reichlich überflüssige Ausgabe, um die wir in Venezuela so elegant drumrumgekommen sind (siehe vorne). Immerhin haben wir von unserem Gesamtbudget von 1600 Dollar noch stolze 140 Dollar übrig, was uns im großen und ganzen einigermaßen sparsames Wirtschaften und gutes Kalkulieren bescheinigt.

Zum Abschluß der Fahrt findet die reinste Wiedersehensfeier statt: U.a. treffen wir die beiden Bayern aus der Dschungellodge am Amazonas, die mit Aeroflot zurückfliegen, sowie das Essener Lehrerpaar, das uns in Puno am Titicacasee mit 500 Soles ausgeholfen hatte, als wir keine Schecks wechseln konnten. Die tollsten Schauergeschichten werden uns da aufgetischt von aufgeschlitzten Taschen, geklauten Rucksäcken und Armbanduhren, Krankheiten und anderem Ungemach, daß wir uns nur noch wundern können, ohne jeden Schaden davongekommen zu sein. Was uns abhanden gekommen ist, läßt sich schnell auflisten: ein belichteter Diafilm, ein Paar Handschuhe, eine Taschenlampe und eine Seife - und alles aus eigenem Verschulden. Dafür bereichert uns seit einiger Zeit ein Schlüssel, dessen Herkunft wir beim besten Willen nicht ermitteln können. Daß ich im Gegensatz zu meiner Asien-Tour diesmal ohne jeden Schimmer einer Krankheit davongekommen bin und auch Conni immer nur kleinere Wehwechen gehabt hat, ist ein echter Glücksfall bei  d e n  Möglichkeiten, sich etwas einzufangen.

Kurz vor eins sitzen wir in unserer VIASA - DC 109 die uns in 23 Stunden über den großen Teich zurück nach Hause bringen soll. Mit knurrenden Mägen erwarten wir die erste Bordverpflegung, während Lima in der unvermeidlichen Dunstglocke langsam aus unserem Blickfeld verschwindet. Eigentlich schade, daß wir trotz mehrfacher Aufenthalte in Lima im Grunde so wenig von der Stadt gesehen haben. Sogar für die als „Muß" einer Peru-Fahrt eingestuften Kulturstätten, wie das Archäologische oder das Goldmuseum, hat es letztendlich nicht mehr gereicht. Reizvoll wäre neben dem Besuch des Villenvorortes Miraflores sicher auch das Erotische Museum gewesen, da wir schon in so manchen Souvenirläden erotische Inca-Spezialitäten in Form kitschiger Nachbildungen bewundern konnten. Die gezeigten Phallus-, Koitus-, Fellatio- und anderen körperlichen Darstellungen, die nach unseren heutigen Maßstäben ganz klar unter die Kategorie „Pornographie" fallen würden, erinnerten mich stark an die vor vier Jahren besichtigten „Pornotempel“ in Indien (damaliger Ausspruch von Roland). 

Vom „Schweinskram" zurück zur Gegenwart, zu unserem Flug über die wolkenverhangenen Anden mit Zwischenlandung in Bogota. Bevor es zur nächsten Landung in Caracas kommt, beschert uns der Kapitän während einem der vielen leckeren Mahle noch einige Schreckminuten, als er per Lautsprecher ohne ersichtlichen Grund zum Anlegen der Gurte auffordert. Keiner weiß Bescheid; selbst die Stewards und Stewardessen scheinen überrascht und gehen, die Servirwagen festhaltend, in die Hocke. Einige Turbulenzen werden spürbar - offenbar eine Schlechtwetterfront - doch bald schon ertönt das erlösende Klingelzeichen für Entwarnung, und wir können die beinah im Hals steckengebliebenen Bissen in Ruhe zu Ende kauen. Zumindest wird uns nun verständlich, warum nicht nur PKW-, LKW- und Busfahrer sich bei Fahrtantritt und -ende bekreuzigen, sondern auch die Besatzungen in Flugzeugen.

In Caracas haben wir dreieinhalb Stunden Aufenthalt, der zur Platzverteilung (diesmal leider nur Mittelgang und bei „smoking“) und zu einer Inspizierung der teuren Duty-Free-Shops genutzt wird.

Vor der Abfertigung einer Linienmaschine nach Frankfurt wird unseren Zufallstreffen die Krone aufgesetzt. Wir glauben, unseren Augen nicht trauen zu können, als wir unter den Passagieren Johannes, einen Bekannten aus einer Essener Wohngemeinschaft, erkennen, mit dem wir über Pfingsten zusammen beim Segeln in Holland gewesen sind. Johannes hat seine Sommerferien in Ekuador verbracht und ist nun wie wir auf dem Rückflug nach Deutschland.

Nach 10 Minuten ist der Wiedersehensspuk vorbei, und bald geht auch unser Flug weiter. Während über Kopfhörer Mozarts „Kleine Nachtmusik“ säuselt oder in abruptem Wechsel die Rolling Stones hämmern, lassen wir eine Freßorgie nach der anderen über uns ergehen. Der reinste Freßstreß ist das. Zwischen den einzelnen Mahlzeiten bleibt uns kaum Zeit, zur Feder zu greifen und Tagebuch zu schreiben.

Um 2 h 30 peruanischer Zeit erscheint am Horizont ein heller Schein, der rasch an Helligkeit und Röte zunimmt, bis schließlich die Sonne zum Vorschein kommt. Ein toller Anblick über einem Meer von Wolken. Wir befinden uns irgendwo über dem Atlantik und müssen schon einige Zeitzonen überquert haben. Die Zeitdifferenz zwischen Peru und der MEZ beträgt bei Sommerzeit sieben Stunden, die wir gegenüber dem Hinflug nun „verlieren“.

Noch drei butterweiche Landungen (seit Madrid haben wir Fensterplätze - Paris zeigt sich in der Ferne mit Eiffelturm und Sacrė-Coeur von seiner besten Seite), und wir sind wohlbehalten und abgefüttert in Amsterdam. Jetzt muß erst mal ein kräftiger Schluck Jenever her. Wie sich später herausstellt, haben Conni und ich im Verlauf der Reise eine kleine Gewichtsumverteilung vorgenommen: Ich habe zwei Kilo abgenommen, während Conni zwei zugelegt hat.

In Amsterdam scheint eine angenehm warme Abendsonne, die uns auf der Rückfahrt ins Sauerland noch einige Zeit begleiten wird. Es ist kurz nach sechs, und entsprechend tropischem Tageszeitenklima würde es jetzt in dem mittlerweile so fernen Peru schlagartig dunkel. Das Flugzeug ist superpünktlich gelandet. Man merkt, daß man wieder in Europa ist, wo es bekanntlich auf die Sekunde ankommt. Doch selbst Michael und Regina, die wenig später eintreffen, sind bei dieser Riesendistanz von soviel Pünktlichkeit überrascht. Ein gemeinsames Ankunftsfoto komplettiert meine Fotoserie.

Das Abendrot am Horizont läßt meine Gedanken etwas wehmütig noch einmal um die Erlebnisse der vergangenen Wochen kreisen. Es bleibt die Erinnerung an eine rundum gelungene Reise, die zusätzlich durch Dias und diese Tagebuchaufzeichnungen für immer lebendig bleiben wird.

Doch es dauert nicht lange, und in mir meldet sich schon wieder der Reise-Nimmersatt, der mir sagt,
daß die nächsten Ferien nicht mehr fern sind. Und dazu fallen mir die ersten Zeilen eines Liedes von Konstantin Wecker ein: "Wenn der Sommer nicht mehr weit ist und der Himmel violett, weiß ich, daß das meine Zeit ist, weil die Welt dann wieder breit ist, satt und ungeheuer fett.“


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